Den ersten Teil dieses Interviews finden Sie hier.

 

Als einziger arabischer Staat unterstützte Syrien im ersten Golfkrieg, trotz aller ideologischen Schranken, den nichtarabischen Iran, der zudem auch noch von einer schiitisch-theokratischen Führung regiert wurde, und sich im Krieg mit dem Baath-Regime von Bagdad befand. Inwieweit erklärt diese damalige Verbundenheit die heutige Nähe zwischen Teheran und Damaskus?

K.L.: Syrien ging 1979 eine strategische Partnerschaft mit Iran nach der Islamischen Revolution ein. Der Grund war, dass Syrien von Verbündeten der USA und der NATO umgeben war: Türkei, Israel, Jordanien, Saudi Arabien und der Irak, der damals massiv von Großbritannien und Frankreich und den USA aufgerüstet wurde. Syrien befand sich in der Mitte eines politischen Haifischbeckens und für Hafez al-Assad war das Bündnis seines Landes mit dem Iran - der mit dem Sturz des Schahs aus dem westlichen Bündnis herausgebrochen war - eine Rückversicherung für die syrische Unabhängigkeit. Die sonst ja nur von der Sowjetunion unterstützt wurde. Damals wurden zwischen Syrien und dem Iran Abkommen vereinbart, die bis heute Gültigkeit haben und umgesetzt werden. Daher das militärische Engagement des Irans in Syrien. Hinzu kommt auch die Hisbollah, die als militärischer und politischer Machtfaktor im Libanon sowohl für Damaskus als auch für Teheran wichtig ist.

 


Haben Sie eine Erklärung dafür, dass das Schicksal der Stadt Aleppo, welches zum Jahreswechsel die Medienberichterstattung dominierte,  aus den Schlagzeilen nahezu verschwunden ist?

K.L.: Westliche Medien und Politiker haben das Geschehen in Aleppo Ende 2016 ja als „Niederlage“ beschrieben. Es war die Rede vom „Fall“ von Aleppo. In Aleppo aber feierten mehr als 1 Million Menschen die Befreiung der Stadt. Zehntausende waren aus dem Osten der Stadt den syrischen Truppen und deren Verbündeten geradezu entgegen geflohen, um sich vor den bewaffneten Gruppen in Sicherheit zu bringen. Etwa 35.000 Menschen, darunter Tausende Kämpfern und mehr als 100 ausländische Offizieren, die den Kämpfern geholfen hatten, wurden nach Idlib evakuiert. Es war also ein verhandeltes Ende der bewaffneten Gruppen in Ost-Aleppo, sie wurden nicht abgeschlachtet. Dann wurden dort jede Menge Waffen, auch aus den USA und Deutschland, gefunden, Munition, Folterkeller, Tote, Sprengfallen, Minen – die Realität in Ost-Aleppo stimmte ganz offensichtlich nicht mit dem überein, was westliche Medien über die Stadt berichtet hatten. Da schwieg man lieber.

 


Die Befreiung der Stadt sei ein "positiver Schritt hin zu einer Lösung jenseits von militärischer Gewalt“, erklärten Sie Ende des vergangenen Jahres, bezüglich des Schicksals von Aleppo, nachdem die Regierungstruppen dort Einzug hielten. Gilt das auch noch heute, einige Monate später?

K.L.: Der Abzug der Kampfgruppen bedeutet natürlich immer das Ende einer bewaffneten Konfrontation, das kann man aus Sicht der Bevölkerung nur positiv bewerten. Auch die syrische Armee und deren Verbündete haben ihre Präsenz in Aleppo verringert. Ich komme eben von einem längeren Aufenthalt aus Syrien zurück und war im April zwei Mal in Aleppo. Die Menschen kehren in ihre Stadtteile zurück, sehen nach ihren Wohnungen und Geschäften, räumen auf, reparieren. Ich habe mit Männern gesprochen, die den Sand aus den Sandsäcken des Sakaria-Krankenhauses - das die Kampfgruppen in „Al Quds-Krankenhaus“ umbenannt hatten – sie haben die Sandsäcke aufgeschnitten und reparieren mit dem Sand ihre zerstörten Balkone, Wände, Treppen. Es gibt wieder Wasser, die Stromversorgung wird repariert, vor allem müssen die Menschen keine Angst mehr haben, wenn sie durch die Straßen laufen. Natürlich ist sehr viel zerstört, viele haben Schreckliches erlebt. Verschiedene Personen, die ich interviewt habe, begannen zu weinen, als ich nach ihren Erlebnissen fragte. Aber Aleppo atmet, die Menschen wollen ihr Leben wieder aufbauen.

Es gibt allerdings immer noch Angriffe mit Raketen und Granaten vom Westen her, aus Raschidien, das von der Nusra-Front, einem Al-Khaida-Ableger, kontrolliert wird. Erst vor zwei Wochen kam es dort zu einem schrecklichen Anschlag, bei dem weit mehr als 100 Menschen ermordet wurden. Die meisten Toten waren Kinder! Ziel des Anschlags waren Vertriebene aus den beiden Ortschaften von Kefraya und Al Fouah, die zwei Jahre lang von der Nusra Front und anderen Islamisten belagert und beschossen worden waren. Diese Menschen wurden im Rahmen eines „Vier-Städte-Abkommens“ evakuiert, im Gegenzug wurden Kämpfer aus Zabadani und Madaya (Umland Damaskus) nach Idlib gebracht. Fünf Busse der Vertriebenen aus Kefraya und Al Fouah brannten aus, es war eine Tragödie. Ein Bekennerschreiben der Armee des Islam tauchte auf deren Webseite auf. Darin hieß es, man werde die „Ungläubigen“ angreifen, wo immer sich die Gelegenheit böte. Diese „Ungläubigen“ sind schiitische Muslime. Das Schreiben wurde später von der Webseite wieder entfernt. Es bleibt also unklar, welche der islamistischen Kampfgruppen diese Menschen getötet hat.

Hier sei die Frage gestattet, warum das Entwicklungshilfeministerium in Berlin und andere europäische Regierungen Hilfe in Milliardenhöhe an eine syrische Opposition in Idlib, im Westen von Aleppo und nördlich von Hama bezahlen, die von der Nusra-Front und anderen islamistischen Gruppen kontrolliert wird. Die Nusra-Front gilt international als „Terrorgruppe“ und wird mit Waffen aus der Türkei versorgt,  die von den Golfstaaten bezahlt und aus europäischen Rüstungsfirmen geliefert werden. Wohin geht wohl die „humanitäre Hilfe“, die aus Europa über die Türkei nach Idlib geschickt wird? Die Menschen in Aleppo dagegen erhalten keine Hilfe aus Deutschland und Europa. Im Gegenteil, sie sind einem EU-Wirtschaftsembargo unterworfen, weil sie in dem Gebiet leben, das von der syrischen Regierung kontrolliert wird. In Deutschland und Europa wird diese Regierung dämonisiert.

 

Inwieweit haben die US-Angriffe von Anfang April, die Verteidigungsfähigkeit der syrischen Armee massiv eingeschränkt und dem IS genutzt? Die erwähnten Angriffe wurden mit dem Einsatz von Giftgas begründet, das angeblich von der syrischen Armee verwendet worden sein soll. Dieser Tage ließ das  französische Außenministerium verlautbaren: Der Sarin-Einsatz Anfang April trägt zweifellos »die Handschrift des Regimes« in Damaskus. Was halten Sie von solchen Verlautbarungen und was für eine Strategie steckt Ihrer Meinung nach dahinter?

K.L.: Syrien ist ein Entwicklungsland und die syrische Armee war ohnehin schwach und nicht auf einen solchen Krieg, einen Abnutzungskrieg, eingestellt. Die USA und deren Verbündete haben die syrische Armee von Anfang an bekämpft. Zu den ersten Opfern des Krieges gehörten syrische Soldaten, deren Bus im April 2011 bei Tartus angegriffen wurde. Und syrische Soldaten, die bei Jisr as-Shughour im Juni 2011 ermordet wurden. Die Angriffe erfolgten zunächst indirekt und mit Waffen, die man den bewaffneten Gruppen lieferte. Mit Ausbildung, mit Logistik – von NATO-Schiffen im Mittelmeer, auch von einem deutschen Schiff - wurde der Funkverkehr der syrischen Armee abgehört und an die bewaffneten Gruppen weitergeleitet, bis Russland das mit eigener Technologie stoppte. Die militärische Unterstützung der USA, der Türkei, des Westens und der Golfstaaten für die bewaffnete Opposition (Freie Syrische Armee) hat den so genannten „Islamischen Staat im Irak und in der Levante“ erst stark gemacht, ebenso die Nusra-Front (Al Khaida), die daraus hervorgegangen ist. Ich habe zuvor den DIA-Bericht erwähnt, der im Herbst 2012 feststellte, dass „der Westen, die Türkei und die Golfstaaten“ die Islamisten absichtlich stärkten mit dem Ziel, den Einfluss des Irans in der Region zu brechen. Das sagt alles.

Der Angriff von Anfang April und die anhaltenden Beschuldigungen, die syrische Armee habe Giftgas eingesetzt, sind Teil dieser Strategie. Natürlich weiß man auch in Washington, dass die syrischen Chemiewaffen ab Ende 2013 unter internationaler Kontrolle registriert, aus dem Lande geschafft und vernichtet wurden. Die USA war mit einem riesigen Spezialschiff im Mittelmeer selber daran beteiligt. Syrien hat keine Chemiewaffen mehr. Und Syrien hat diese auch vor deren Vernichtung nie eingesetzt. Die Kampfgruppen allerdings verfügen über chemische Kampfstoffe, die aus Libyen über die Türkei nach Syrien geschmuggelt wurden. Es gibt eine Fülle von Berichten darüber. Die syrische Regierung hat den UN-Sicherheitsrat viele Male darüber informiert. Aber die westlichen Politiker halten es aktuell mit dem Motto „Haltet den Dieb“, um von der eigenen Verantwortung und den eigenen Plänen in Syrien abzulenken. Dienlich bei den aktuellen Anschuldigungen gegen die syrische Regierung ist ein israelischer Militär, auf den sich kürzlich sogar der US-Verteidigungsminister James Matti bezog. Der Israeli will herausgefunden haben, dass Syrien noch drei Tonnen chemische Waffen versteckt habe. Beweise liefert er nicht. Und wegen so einer windigen Aussage soll alles, was zuvor von der UNO – das heißt vom UN-Sicherheitsrat - mit Brief und Siegel bestätigt worden war, unwahr sein? Sicherlich nicht.

 


Weshalb scheint man im Westen eher dazu bereit zu sein, eine Herrschaft des IS oder anderer sunnitischer Extremisten zu tolerieren, als das Baath-Regime, wieso überwiegt die Angst vor dem Einfluss Russlands, besonders aber Irans in der Region, trotz der bisherigen Erfahrungen. Verstehen Sie noch die strategischen Entwürfe, welche sich dahinter verbergen?

K.L. Es geht um den Zugriff auf die Rohstoffe und die Kontrolle von Transportwegen in der Region. Der Mittlere Osten ist – aus westlicher Sicht - nur ein Schritt auf dem Weg hin nach Zentralasien, wo sich noch mehr Rohstoffe befinden. Bashar al-Assad wäre der beste Freund des Westens und der USA, wenn er ihnen wirtschaftlich und militärisch ungehinderten Zugang gewähren, wenn er Katar eine neue Pipeline durch Syrien bauen lassen, einen von Saudi-Arabien unterstützten Salafisten der Islamischen Armee (Mohamed Allousch) zum Verteidigungsminister ernennen, das Verbot der Muslim Bruderschaft aufheben, Israel die besetzten Golan-Höhen überlassen und seine strategische Partnerschaft mit Russland, Iran und der Hisbollah sowie die Unterstützung der PLO aufkündigen würde. Kurzum, Bashar al-Assad müsste nur den Regime-Change selber vollziehen, dann wäre der Krieg morgen vorbei. Es geht in Syrien um geostrategische Interessen.

Der Einsatz von Religion als Mittel für kriegerische Mobilisierung zur Durchsetzung von Interessen ist alt. Die Idee, den politischen Islam zum Schaden des Gegners zu nutzen, war schon Thema im 1. Weltkrieg. Der deutsche Archäologe und Geheimdienstmann Max von Oppenheim entwickelte damals eine Strategie darüber, wie die tiefe Gottesgläubigkeit der muslimischen Beduinenstämme militärisch genutzt werden könnte, um die Briten und Franzosen in der Region zu schwächen. Oppenheim wollte die Muslime zum „Dschihad“, zum „Heiligen Krieg“ aufstacheln. Festgehalten hat er diese Ideen in einer „Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“. Hat damals nicht geklappt, aber islamistische Söldner gehören seit dem Krieg in Afghanistan zu einer festen Strategie der USA, um muslimische oder multireligiöse Staaten, die sich der US-Hegemonie nicht unterordnen wollen, zu destabilisieren. Nachzulesen bei Zbigniew Brzezinski, "Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft" ("The Grand Chessboard").

 


Hegen Sie die Hoffnung, dass jenes Syrien, welches in früheren Zeiten unzählige Besucher begeisterte, jenes Syrien als Wiege von Hochkulturen und ethnoreligiöser Vielfalt, flankiert von der Gastfreundschaft seiner Bewohner, noch nicht verloren ist?


K.L.: Hätte man die Syrer ihren inneren Konflikt miteinander lösen lassen, hätte man sie dabei unterstützt, anstatt sie gegeneinander aufzuwiegeln, es wäre nie so weit gekommen. Für die Zerstörung Syriens sind die bewaffneten Gruppen und natürlich auch die Regierung verantwortlich. Aber letztlich sind es die regionalen und internationalen Akteure, die Syrien zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges gemacht haben, mit dem die Syrer selber nichts zu tun haben.

Wenn keine Waffen, keine Kämpfer, keine ausländischen Gelder in das Land flössen, könnten die Syrer miteinander einen Weg finden. Wenn die ausländischen Armeen, die sich völkerrechtswidrig in Syrien aufhalten, abzögen, wenn man aufhören würde, den Präsidenten und die Regierung zu dämonisieren, wenn man die politische Isolation, die Wirtschaftssanktionen beenden würde, wenn man aufhören würde, die Syrer in ethnische und religiöse Gruppen aufzuteilen und gegeneinander zu bewaffnen – kurz: wenn die destruktive ausländische Einmischung aufhörte, dann wäre Frieden in Syrien in einem Jahr möglich. UNO-Vertreter haben das schon 2013 gesagt.

Dass Frieden in Syrien möglich ist, zeigen die Syrer jeden Tag. Trotz der anhaltenden Waffenlieferungen, den Medienkampagnen, den völkerrechtswidrigen Angriffen und Beschuldigungen sind die Syrer entschlossen, dem Krieg ein Ende zu bereiten. Sie leben weiterhin miteinander, sie helfen sich. Und – auch wenn man das hier nicht gern hören mag – sie werden dabei vor allem von Russland unterstützt. Seit Anfang 2016 gibt es mehr als 1.400 lokale Waffenstillstände, 82.000 Männer wurden in ein staatliches Amnestieprogramm aufgenommen, 3 Millionen Menschen konnten in ihre Heimatorte zurückkehren, mehr als 30.000 Gefangene wurden freigelassen. Und diejenigen, die sich besonders stark in den lokalen Versöhnungskomitees engagieren sind die Frauen, die ihre Männer oder Söhne in diesem Krieg verloren haben. Auf beiden Seiten. Das ist Syrien, so sind die Syrer. Sie sind auf der Suche nach Frieden mitten im Krieg. Freundlich zu denen, die in guter Absicht kommen. Hart gegenüber denen, die Syrien zerstören  wollen.

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