Wenn der Fundamentalanalyst zum Politikversteher werden muss…

Seit Anfang der 90er Jahre beschäftige ich mich mit Kapitalmarktanalyse. Bis dato spielte dabei die Fundamentalanalyse die entscheidende Rolle. Makroökonomische Daten genauso wie mikroökonomische Kennziffern reichten im Regelfall als Zutaten aus, um Einschätzungen von Aktien, Renten oder Währungen rational treffen zu können. Die Politik spielte nur eine „Nebenrolle“, da sie sich mit der Setzung klarer, rationaler Rahmendaten begnügte, an denen sich der Analyst wie an einem Halteseil orientieren konnte. Massive exogene politische Schocks - zumindest in der westlichen Welt - waren die klare Ausnahme. Selbst der Prozess der europäischen Harmonisierung - grundsätzlich ein Jahrhundertereignis - fußte auf nachvollziehbaren (Stabilitäts-) Regeln. Und am ultimativen Grundsatz der Portfoliotheorie, dass Staatsanleihen risikolos sind, hat auch niemand gerüttelt. Insgesamt war die Politik eine Konstante, ein Kompass.

So weit, so gut. Was ist heute von dieser guten alten Zeit geblieben? Heutzutage bin ich gezwungen, meine Arbeitszeit in wesentlichen Anteilen auch der politischen Analyse zu widmen. Das ist zunächst nicht weiter schlimm, da ich ein politisch interessierter Mensch bin. Aber oft hat das, was ich vorfinde eher mit politischer Satire zu tun. Der Kompass hat seinen Geist aufgegeben.

 

Wenn der Rettungsschirm spannt

Es scheint heute um politischen Zeitgewinn zu gehen. Aber was soll am Ende dabei herauskommen? Mit der kürzlichen Verabschiedung des erweiterten Rettungsschirms verschafft man sich eine Ruhepause, zumindest über das Wochenende. Jedoch ist nach der Rettung vor der Rettung. Bereits in den nächsten Tagen soll es um Erweiterungen des erweiterten Rettungsschirms gehen, der zu klein geworden ist, um allen Schutzbefohlenen in der Eurozone bei finanzwirtschaftlichem Starkregen Unterschlupf zu bieten.

Leider muss sich die Politik dabei immer wieder der Mühsal unterziehen, die oft so renitenten Parlamente befragen zu müssen, die sich doch wagen, es an genügend Gegenliebe für umfangreichere Rettungszelte - Entschuldigung, ich meinte natürlich Schirme - mangeln zu lassen. Aber liebe Politik es gibt ja immer noch die Physik, genau gesagt die Hebelfunktion. Wir wandeln den Rettungsfonds einfach in eine Kreditinstitution um, die sich ähnlich wie eine Geschäftsbank Liquidität von der EZB leihen kann und dieses über den Geldschöpfungsmultiplikator dramatisch vervielfacht. Als Sicherheit dienen die Bürgschaften der derzeit noch sechs mit Top-Bonität beurteilten Euro-Länder. Insgesamt eröffnete dies faszinierende Rettungswelten. Dann reden wir tatsächlich von Rettungszelten.

 

Die Dramaturgie Brüsseler Politik

„Keine Chance“ sagt im Moment noch die Politik. Aber mittlerweile kennen wir ja die DBP, die Dramaturgie Brüsseler Politik. Nach entschiedener Ablehnung eines neuerlichen Rettungsmanövers werden anschließend harte Bedingungen für deren Umsetzung formuliert. Zum Schluss wird die Hilfsmaßnahme dann aufgrund der unverzüglichen Alternativlosigkeit ohne Bedingungen umgesetzt.

Bei der Hebellösung hätten wir es mit einem Schnellballsystem zu tun, ohne jedoch die nachhaltige Lösung der Euro-Krise erzielen zu können. Oder würde man persönlich seinen guten Namen in Form einer Bürgschaft hergeben, wenn der wirtschaftliche Genesungserfolg wie im Falle Griechenlands utopisch ist und Anreize für Länder gegeben werden, ihre Sparanstrengungen schleifen zu lassen? Am Ende gefährdet man selbst seine Bonität, ja gibt Rating-Agenturen einen Steilpass, auch Deutschland selbst als Super-Bürgen abzustrafen.

Wann wird der europäische Stier an seinen Hörnern gepackt und die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der Eurozone und insbesondere seiner Mitgliedsländer in den Mittelpunkt politischer Entscheidungsfindung gerückt?

 

Die Suche nach Schuldigen ist keine Lösung

Es ist keine Handlungsalternative, lediglich die Finanzmärkte nach dem Motto „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, muss von irgendwo ein Schuldiger her“ zu brandmarken. Die dabei wieder diskutierte Finanztransaktionssteuer ist ein Placebo für das Publikum. Dass diese Steuer nur dann wirklich Sinn macht, wenn man möglichst alle weltweit wichtigen Finanzplätze mit einbindet, da ansonsten Ausweichmöglichkeiten existieren, die in der Eurozone die Finanz- und auch Arbeitsplätze gefährden, ist offensichtlich den Gutmenschen aus Brüssel noch nicht eingefallen. Dagegen würden die Finanzmarktakteure in New York, London, Dubai oder sonst wo auf der Welt vermutlich vor Freude im Kreis lachen. Denn in diesen Ländern ist die Finanzindustrie vielfach ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Diese Länder haben sich bislang nicht als glühende Verfechter einer derartigen Steuer gezeigt. Sie werden es auch zukünftig nicht werden. Oder können Sie sich vorstellen, dass sich Casanova freiwillig selbst kastriert?

 

Wann wirds mal wieder richtig fundamental?

Es gibt nichts Gutes, es sei denn man tut es. Ohne Behandlung der wirtschaftlichen Ursachen der Krise - und nicht nur der Symptome - ist für Euroland auch weiterhin das ganze Jahr Aschermittwoch. Politische Nägel mit Köpfen müssen her. In Abwandlung eines früheren Hits von Rudi Carrell stelle ich mir oft die Frage „Wann wird’s mal wieder richtig fundamental? Ich glaube, ich werde noch Warten müssen. Hoffentlich wird es kein Warten auf Godot!

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