Versailles – das ist heute unter Historikern nahezu einhellige Meinung – war schicksalhaft für Deutschland. Mit dem demütigenden und ruinösen Vertrag von Versailles, der Hitler zur Macht verhalf, begann der Untergang des Deutschen Reiches. Die Militärführung hatte, vertrauend auf den 14-Punkte-Plan des amerikanischen Präsidenten Wilson, der einen „gerechten Frieden“ versprach, nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 sämtliche Waffen an die Alliierten abgegeben und sich damit auf Gedeih und Verderb in die Hände der Siegermächte begeben.

Der französische Marschall Ferdinand Foch triumphierte, jetzt sei Deutschland den Siegern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Erpressung und Drohungen, in Deutschland einzumarschieren hatten zur Folge, dass den Vertretern des Deutschen Reichs nichts anderes übrig blieb, als am 28. Juni 1919 den Versailler Vertrag mit seinen übermäßig harten Bedingungen (unter Protest) zu unterschreiben und damit die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg zu bestätigen.

Der Publizist Alexander Sosnowski und der Sicherheitsexperte und Staatssekretär a. D. Willy Wimmer haben jetzt einen Interview-Band mit dem Titel „Und immer wieder Versailles“ veröffentlicht, der Untertitel lautet: „Ein Jahrhundert im Brennglas.“ Schon in seinem Vorwort schreibt Wimmer, das Jahr 2019 lade zur Rückbesinnung ein: „Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg – alles Geschichte, oder was? Nein, denn Gras darüber wachsen zu lassen wäre nur angebracht, wenn uns die Entwicklung den Frieden beschert hätte. Doch die Konferenz von Versailles vor genau einhundert Jahren sollte diesem Zweck nicht dienen.

Auf die bedeutsame Frage Sosnowskis nach dem angelsächsischen Einfluss „auf die Geschichte und Geschicke Deutschlands“ sagt Wimmer, das sei ein zentraler Punkt. Deutschland sei angeblich „ein Hort des Militarismus“ gewesen, doch im Vergleich zu den Briten und Franzosen „waren wir die friedlichste Nation in Europa.“ In der Zeit zwischen 1871 und 1919 habe Deutschland eine Geistesblüte erlebt, von der Europa „etwa in den Bereichen Medizin und Technik noch immer zehrt. Auch sozial waren wir mustergültig und zeichneten uns zudem durch eine bewundernswerte Wirtschaftsleistung aus.“ Das aber habe „die angelsächsischen und französischen Kreise offenbar so sehr gestört, dass sie meinten, diesem prosperierenden kaiserlichen Deutschland etwas entgegensetzen zu müssen“.

Darauf geht Wimmer später noch genauer ein. Bereits lange vor 1914 sei eine Koalition gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn gebildet worden, „und zwar mit der Absicht einer Aggression“. Dies sei die zentrale Ursache des Ersten Weltkriegs gewesen, wobei man von einer langfristigen Strategie ausgehen müsse. Die „aufstrebenden Friedensmächte“ Deutschland und Österreich-Ungarn sollten zerlegt und die weitere prosperierende Entwicklung, die für britische und französische Kreise zu einer Konkurrenz wurde, verhindert werden.

Auf die Beteiligung der USA an dem Vorgehen gegen Deutschland und Österreich-Ungarn eingehend, nennt Wimmer einen der Drahtzieher und dessen „Lobbyarbeit“: „Colonel Houses Vorschlag bei seinem Besuch in Berlin 1916 hat die amerikanische Taktik mehr als deutlich gemacht: kein Krieg mehr gegen England und Frankreich, dafür freie Hand für Deutschland, um Russland zu vernichten.“ Zur gleichen Zeit wurde am russischen Zarenhof der einflussreiche Prediger Rasputin, der sich für einen Frieden mit Deutschland einsetzte, von einem britischen Geheimagenten ermordet; Russland sollte Kriegspartei gegen Deutschland bleiben.

Es ging darum“, so Wimmer, „Russland gegen das kaiserliche Deutschland und Österreich-Ungarn weiter instrumentalisieren zu können. Das ist ein Prozess, den wir in seinen Grundstrukturen bis heute fortgeschrieben sehen.“ Ein Krieg zwischen Deutschland (als Brückenkopf) und Russland würde zum endgültigen Untergang beider Länder führen. Und Kriegspläne – so Wimmer weiter – „werden ja nicht von Regierungen oder Parlamenten geschmiedet, sondern durch auf allen Ebenen bestens vernetzte Kräfte, die sich des staatlichen Systems bedienen, um ihre klandestinen Pläne umzusetzen.“

Zum Aufstieg Hitlers und der NSDAP stellt Alexander Sosnowski die Frage, wer die Finanziers dieser Bewegung waren, worauf Willy Wimmer antwortet: „Ohne ausländisches Geld wäre Adolf Hitler nicht möglich gewesen.“ Hierzu kommen er und Sosnowski auf Henry Ford und andere amerikanische, britische und französische Geldgeber zu sprechen. Darin, dass diese drei Staaten kurz darauf Krieg gegen Nazi-Deutschland führten, sieht Wimmer keinen Widerspruch. Vielmehr liegt für ihn die Rolle, die Deutschland „zugeteilt“ bekam, in der Funktion eines „Rammbocks“ gegen Russland: „Man musste das eigenständige kaiserliche Deutschland beseitigen, führte es in die Fremdbestimmung der Weimarer Republik und in das Elend des Zweiten Weltkriegs. Anschließend wurden wir für die Angelsachsen und Franzosen zum europäischen Brückenkopf gegen die Russische Föderation, die sich als Ergebnis des Zusammenbruchs der Sowjetunion gebildet hat.

Die Autoren schlagen einen großen Bogen. Sie sprechen über Themen wie den Vertrag von Rapallo (1922), Polens Expansionsbestrebungen unter Marschall Pilsudski, den Hitler-Stalin-Pakt (1939), die Teilung Deutschlands nach 1945, die Gründung der Europäischen Union oder den Elysée-Vertrag von 1963 sowie über die faktische Aufhebung der Charta der Vereinten Nationen durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien (1999). Die Leserinnen und Leser können über fast 200 Seiten ein breit gefächertes Gespräch verfolgen, das vom Wiener Kongress (1814/15) mit seinen Auswirkungen für Europa bis in die Gegenwart mit dem Brexit und der ausufernden Aggressions- und Sanktionspolitik gegen Russland reicht.

Willy Wimmer, ehemaliger Vizepräsident der KSZE/OSZE, nimmt hier die Gelegenheit wahr, seinen umfangreichen Fundus an Erfahrungen und Wissen über historische Entwicklungen und Zusammenhänge auszubreiten. Ein beeindruckender Schatz, der nur noch wenigen politisch denkenden Zeitgenossen zur Verfügung steht und der vieles in einem neuen Licht erscheinen lässt. Seine Ausführungen zu Versailles und der „deutschen Kriegsschuld“ werden sicherlich von manchen Historikern als Geschichtsrevisionismus abgetan werden, aber Wimmer beruft sich auf Fakten, er polemisiert nicht, beantwortet die Fragen Sosnowskis sachlich und trotz der Brisanz eher zurückhaltend. Heute seien wir, so meint er, wieder bei demselben rechtlichen Zustand wie bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges angekommen – das mache „den zivilisatorischen Verlust, den wir heute haben, deutlich“.

Das ganze Buch könnte unter dem Motto eines darin vorkommenden Satzes von Willy Wimmer stehen, der sich auf das gegenwärtige Deutschland bezieht: „Irgendwie scheint alles, was zum normalen politischen Leben eines Landes gehört, unterzugehen." Er begründet das: „Vor der Wiedervereinigung, in der teilsouveränen Bundesrepublik Deutschland, hatten wir immer wieder Regierungen, welche die nationalen Interessen vertraten … Die Politiker der Berliner Republik hingegen artikulieren sich eigentlich kaum noch als Regierung im Sinne der Wählerinnen und Wähler, die diese Regierung gewählt haben. Und sie artikulieren sich schon gar nicht im Zusammenhang mit deutschen nationalen Interessen.

Diese von beiden Autoren vertretene Ansicht durchzieht das ganze Gespräch und gipfelt in der Frage des Interviewers, ob Deutschland nach 1945 von den USA über die Geheimdienste unter Vormundschaft genommen worden sei. Wimmer antwortet: „Die Frage kann nur im Zusammenhang mit den Folgen einer bedingungslosen Kapitulation und der Übernahme des gesamten deutschen Staates durch Besatzungsmächte beantwortet werden. Der deutsche Staatsapparat war für die Besatzungsmächte eine offene Scheunentür, nicht nur bezüglich der staatlichen Organe, sondern auch der gesamten deutschen Presse.

Genau das, was nach 1945 angebahnt wurde, hat sich bis in die Gegenwart erhalten: Deutschland ist als Frontstaat weitgehend den US-Direktiven ausgeliefert und gegen Russland aufgestellt, die Medien versagen als kritische Instanz fast völlig und nach wie vor hängt das Damoklesschwert eines großen Krieges über uns, wie vor 1914 und vor 1939. Nach kurzer Beruhigung und Besinnung wird nun seit Jahren aufgerüstet, die USA mit der von ihr dominierten NATO sind entgegen allen Versprechungen bis an die Grenzen Russlands vorgerückt und haben dort eine gewaltige Militärmacht stationiert.

Die Charta der Vereinten Nationen ist schon lange Makulatur, spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien von 1999. Jetzt betragen die Vorwarnzeiten für die gegen Moskau gerichteten Raketen fünf bis zehn Minuten. Aber die Bevölkerung wird für dumm verkauft und indoktriniert.

Wimmer stellt fest: „Die erklärte Politik der NATO nach der Charta von Paris 1990 ist so dermaßen gegen das russische Volk und die Russische Föderation gerichtet, wie es die amerikanische, britische, französische Politik gegen das kaiserliche Deutschland vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen ist. Mit allen sich daraus ergebenden Folgen.“ Auf die Schlussfrage ob er eher pessimistisch oder doch optimistisch in die Zukunft blicke, antwortet Willy Wimmer: Das „deutsche Verhängnis“ habe in Versailles seinen Ursprung genommen und sei „durch die jetzige Regierung in übelster Weise befördert worden“. Er meldet „große Bedenken“ an, „wenn man die momentane Entwicklung sieht“, und er schließt mit dem Satz, das habe Deutschland nicht verdient.

Hier geht es zur Erstveröffentlichung der Rezension.

Alexander Sosnowski/Willy Wimmer, Und immer wieder Versailles – Ein Jahrhundert im Brennglas, Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019, geb., 216 S., 29 Abb., 21.90 €.

 

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