Die Nachricht über den Putschversuch hat Freitag eingeschlagen! Die internationalen Nachrichtensender wie CNN oder BBC berichteten die ganze Nacht über. Dasselbe Bildmaterial wiederholte sich schleifenartig, während die Moderatoren oberflächlich gehaltene Fragen und Spekulationen in den Raum warfen. Die zahlreich befragten Interviewpartner vermochten es auch nicht Ordnung in die chaotische Gemengelage zu bringen. Im Zusammenhang mit der türkischen Innenpolitik wurde einst der Begriff „Tiefer Staat“ geprägt. Um die Ereignisse rund um den Putsch besser einordnen zu können, ist kann ein tiefgreifenderer Blick auf derartige Faktoren von Vorteil sein.

Staatlich tief verstrickt

Militärputsche haben in der 93-jährigen Geschichte der Türkischen Republik geradezu eine traditionelle Komponente. Die ersten drei fanden gleich zu Beginn der 60er, 70er und der 80er statt. Der vierte Putsch, der nicht von allen als solcher oder als „stiller Putsch“ bezeichnet wird, betraf 1997 den einstigen politisch-ideologischen Ziehvater Erdogans, nämlich den Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Erbakan trieb die Islamisierung der Türkei so stark voran, dass das Militär den Laizismus gefährdet sah. Die Militärführung übte auf politischer Ebene derart großen Druck auf, dass Erbakan sich gezwungen sah, zurückzutreten.

In der nordwestlich und ca. 250 km von Istanbul entfernten Kleinstadt Susurluk fand im November 1996 ein Verkehrsunfall statt. Das Brisante daran war, dass sich in demselben Auto ein von Interpol steckbrieflich gesuchter Drogenhändler und Mitglied der rechtsextremistischen Partei „Graue Wölfe“, seine Geliebte, eine Schönheitskönigin, sowie der stellvertretende Polizeipräsident Istanbuls befanden. Der einzige Überlebende in dem Auto, in dem Rauschgift, gefälschte Pässe, Handfeuerwaffen mit Schalldämpfern und Tausende US-Dollar gefunden wurden, war Sedat Edip, ein Parlamentsabgeordneter und Führer von paramilitärischen Einheiten gegen die PKK. Dieser sog. „Susurluk-Skandal“ entfachte wieder die Diskussion um die Verstrickungen zwischen Politik, Militär, Polizei und Organisiertem Verbrechen im Land, die schon in den 70ern unter dem Schlagwort „Tiefer Staat“ geführt wurde. 

Ergenekon

Ergenekon nannte sich eine mutmaßliche ultranationalistische Untergrundorganisation, die bis Ende der 1990er existierte. Der Name Ergenekon geht auf die Legende zurück, bei der es um das mythische Ursprungsland der Türken geht. Zu den vermuteten Mitgliedern der Gruppierung gehörten hochrangige Ex-Militärs, Politiker, Medienvertreter, Juristen und Geschäftsleute. Ergenekon hat sich spätestens 2003, in dem Jahr als Recep Tayyip Erdogan Ministerpräsident wurde, neu formiert. 2007 veröffentlichte ein politisches Nachrichtenmagazin aus den Tagebüchern eines Admirals im Ruhestand. Darin heißt es, dass die verschworene Gemeinschaft bereits 2004 zwei Coup d’États geplant haben soll. Im Jahr 2007 war es auch, dass im „Fall Ergenekon“ eine groß angelegte und massenmedial stark begleitete Ermittlungsaktion startete. Im Januar 2008 begannen die ersten Verhaftungen und bis 2014 wurden mehrere Dutzend Leute angeklagt bzw. verhaftet. 2013 wurden Generäle inhaftiert, die Erbakan in den 80ern verhaftet oder ihn später vom Amt gedrängt hatten, womit er sich bei ihnen revanchierte.

Die durch die Verhaftungen entstandenen Lücken im Militärapparat wurden zum Teil durch parteitreues Personal ersetzt. Ohnehin haben die AKP-Mitglieder einen großen Teil und Schlüsselpositionen von Polizei, Justiz, Schulen, Universitäten oder staatlichen Religionsbehörden durchdrungen.

Gülen-Bewegung

Bei der Besetzung von behördlichen Stellen hat Erdogan einen mächtigen und einflussreichen Konkurrenten – den islamischen Prediger Fethullah Gülen. Der 75-Jährige, der früher ein enger Vertrauter war, gründete in den 90ern Schulen in den zentralasiatischen Turkstaaten. Nun gibt es in über 160 Ländern Einrichtungen, die offiziell eher lose Verbindungen zu seiner Bewegung herstellen. Der ehemalige Freund des Präsidenten investiert in Medien, in Gesundheitshäuser und ist auch auf dem Finanzmarkt tätig.

Vor allem in der Türkei übt er mithilfe seiner Anhänger selbst großen Einfluss aus, da sie insbesondere in der Polizei und der Justiz aktiv sind. Gülen regte seine auf acht bis zehn Millionen geschätzten Anhänger dazu an, dass sie sich an entscheidende Stellen im Staatswesen vorarbeiten sollten und nannte im Besonderen auch das Justiz- und Innenministerium. Sie sollten sich unauffällig, zurückhaltend sowie diplomatisch verhalten. Geduldig sollten sie Positionen bis zu den oberen Organen des Staates anstreben und dabei die Konfrontation mit Gegnern meiden.

Obwohl sich Gülen in den 90ern von Erbakans Wohlfahrtspartei noch distanzierte, zählten seine Anhänger lange zu Unterstützern der AKP. Die Kemalisten waren schon immer skeptisch gegenüber dem ehemaligen Verbündeten Erdogans eingestellt, der eine liberale und mystisch-spirituelle Auslegung des Islam propagiert. Von manchen Experten wird sie als sektenähnlich beschrieben. Um einer Verurteilung wegen des Vorwurfs der Unterwanderung des Militärs zu entgehen, ging Gülen 1999 ins Exil und wohnt seitdem im US-Bundesstaat Pennsylvania.

Nachdem Erdogan an die Macht kam, wurde der Prozess gegen seinen noch damaligen Weggefährten eingestellt. Nach einigen Gesetzesänderungen konnte er 2006 auf novellierter juristischer Grundlage freigesprochen werden. Doch irgendwann wurde Erdogan der Einfluss Gülens im Lande zu groß, und 2013 kam es zum Zerwürfnis zwischen ihnen. Nun war der Grundstein für die öffentlich ausgetragene Erzrivalität gelegt. Er warf ihm mitunter vor, den Geheimdienst MIT zu unterwandern und einen „Staat im Staat“ aufbauen zu wollen. Ihr Ziel sei es, dadurch die Regierung zu stürzen. Er ließ massenhaft Gülen-Anhänger aus Justiz- und Polizeiapparat sowie aus anderen staatlichen Institutionen versetzen und entfernen. In dem Jahr begannen auch die Ermittlungen im Rahmen des Korruptionsskandals, die gegen Erdogan und weitere Abgeordnete seiner Partei gerichtet waren. Der Staatspräsident warf Gülen vor, dass er hinter dieser verleumderischen Kampagne stecke. Nun klagt er ihn erneut an und behauptet, dass Gülen hinter dem Putschversuch stehe, was von dem Prediger verneint wird.

Die Einwanderungsbehörden der USA begutachteten die schillernde Figur Gülen sehr skeptisch und wollten ihn nicht ins Land lassen. Doch die Spitzen von CIA haben sich nachdrücklich dafür eingesetzt, dass er seine Greencard bekam. Die Verbindungen zum amerikanischen Nachrichtendienst scheinen sehr eng zu sein. Ein ehemaliger FBI-Berater behauptete, dass mithilfe von Gülens Bildungseinrichtungen CIA-Agenten in Zentralasien eingeschleust wurde. Das war auch ein Hauptgrund, weshalb Putin die Schulen des islamischen Predigers in Russland 2002 schließen ließ.

Neo-Osmanischer Medienkrieg

Im Zuge seines Zwistes mit Gülen ließ Erdogan die Tageszeitung „Zaman“, die zu seiner Verlagsgruppe gehört, durch die Polizei schließen. Für Erdogan ist der Einfluss auf die Medien äußerst wichtig. Er legt ebenso sehr hohen Wert auf sein Image in der Medienlandschaft. Das zeigt nicht zuletzt die in Deutschland geführte Klage gegen den Satiriker Jan Böhmermann. Erdogan konnte seinen großen Einfluss auf die türkischen Medien geltend machen, wenn ihm etwas nicht passte. Knapp 90 Prozent stehen der Regierung nah.

Um sich in Szene setzen, ließ er sich schon so einiges einfallen. Er inszenierte sich sultanhaft quasi als Führer eines großosmanischen Reiches. Als er im Juli 2014 den Palästinenserpräsidenten Abbas in seinem Palast empfing, ließ er Soldaten in historischer Kriegsmontur aufmarschieren, die verschiedene Reiche in der türkischen Geschichte symbolisierten. Dieses Bild wirkte damals auf die westlichen Medien bizarr und skurril. Sie stempelten ihn als Größenwahnsinnigen ab und die Artikel zu diesem „Kostümfest“ oder „Zirkus“ waren eher halbernst. In den sozialen Medien sorgte es für Hohn und Spott. Bei einem Teil der Bevölkerung der zentralasiatischen Turkstaaten, deren kollektives Nationalbewusstsein sich schon seit und nach der Sowjetzeit auf Identitätssuche befindet, hatte der türkische Präsident jedoch einen Nerv getroffen und kam damit sehr gut an.

Wie Erbakan früher auch, richtet er schon seit Jahren seine Vision nicht vorwiegend in Richtung EU im Westen, sondern eher nach Osten, wobei er womöglich über eine Art großtürkisches Reich fantasiert. Damit zeigt sich, dass der Einsatz der Medien nicht nur im Inland eine Rolle für Erdogan spielt, sondern zudem geostrategisch ausgerichtet ist.

Medienkriegsschauplätze

Auch das Internet war Gegenstand auf dem medialen Schlachtfeld. Auf der Website der Türkischen Streitkräfte (TSK) war die Nachricht zu sehen, dass sie die Regierung gestürzt hätten. Die Presseabteilung der Regierung lies verlautbaren, dass es nicht stimme und (Hacker-)Piraten dafür verantwortlich seien.

Der Medienkrieg, im Sinne einer Auseinandersetzung um die Kontrolle über Sendestationen, wirft eine bedenkenswerte Frage auf, die sich auf Folgendes bezieht: Militärtruppen versuchten das Hauptstudio des internationalen staatlichen Senders TRT-Türk zu besetzen. Zeitweise war der Sendebetrieb eingestellt. Ein Redakteur erzählte in einem Interview am Samstag, dass es den Soldaten in dem „Labyrinth von Korridoren“, das auf dem großflächigen Gebäudekomplex vorzufinden ist, ziemlich schwergefallen sei, sich zu orientieren. Wenn eine militärische Operation durchgeführt, um einen zentralen neuralgischen Punkt zu besetzen, könnte man davon ausgehen, dass sie gut durchgeplant sein sollte. Die Soldaten sollten darauf vorbereitet sein, wann und wo sie eingesetzt werden. Zumal der Sender auch eigene bewaffnete Sicherheitskräfte vor Ort hat, die sich auf dem Grundstück bestens auskennen. Für ein Militär, das geradezu jahrzehntelange Erfahrungen im Putschen der Regierung gesammelt hat, ist das eine ziemlich dilettantische Vorgehensweise. Gülen sagt, der Putsch sei inszeniert, damit eine Grundlage geschaffen werden, um gegen Oppositionelle härter vorgehen zu können. Der Ex-Generalinspektor der Bundeswehr Kujat sagte am Sonntag bei der Talkshow Anne Will, dass Soldaten oft orientierungslos gewirkt haben sollen. Manche solle sogar geglaubt haben, dass es sich um eine Übung handle. Sie seien militärtaktisch „unsinnig“ vorgegangen. Indizien dafür, dass Gülen mit seiner Behauptung Recht haben könnte, existieren zumindest...

Fazit

Freitagnacht fand der Putsch statt, und am Montagmorgen waren schon fast 9.000 Beamte entlassen. Unter ihnen befanden sich über 2.500 Richter. Höchst ungewöhnlich für ein Land, in dem Gewaltenteilung zwischen Judikative und Exekutive herrschen soll. Unabhängig davon, wer hinter dem Putschversuch wirklich steht, Erdogans Macht ist nicht nur wieder stabilisiert, sondern sie wird immer fester gezurrt.

Medien berichten, dass Erdogan-Anhänger sich auf offener Straße bei den Putschisten rächen. Internationale Massenmedien sagen, dass sogar Lynchjustiz stattfinden soll. In der Bevölkerung, die jetzt noch gespaltener ist als sie es sowieso schon war, sollten solche Nachrichten Angst und Furcht bei Erdogan-Gegnern hervorrufen. Die Bedingungen, unter denen nun oppositionelle Arbeit geleistet werden kann, haben sich überaus erschwert. Innenpolitisch wird Erdogan aus diesem sehr ungewöhnlich und stümperhaft verlaufenem Putschversuch aller Voraussicht nach gestärkt hervorgehen.

Welche geopolitischen Auswirkungen zieht all das nach sich? Die Vertreter der EU zeigten sich geschlossen erleichtert darüber, dass der Putsch gescheitert ist, weil dadurch die Demokratie obsiegt hätte. Sie pflichteten Erdogan bei. Bemerkenswert war, dass Erdogan sogar im gleichen Atemzug mit der Gülen-Bewegung die USA erwähnt und Unterstützung seitens der CIA angedeutet hat. Wie schon seit Jahren, hat er bei der US-Regierung angefragt, Gülen in die Türkei auszuliefern, was immer abgelehnt wurde. Das spricht dafür, dass sich die Fronten innerhalb der NATO weiter verschärfen sollten.

In turksprachigen Gebieten des Kaukasus und Zentralasiens, wo er relativ hohe mediale Meinungsmacht besitzt, könnte er seinen neo-osmanischen Großmachtfantasien weiter nachgehen.

Im Syrien-Konflikt könnte Erdogans Rolle noch brisanter werden. Die kemalistische Tageszeitung „Cumhuriyet“ warf dem türkischen Geheimdienst vor, Waffen an die Rebellengruppen in Syrien geliefert zu haben. Es wird ihm sogar vorgeworfen, die ISIS gezielt zu unterstützen.

 

Im Vergleich zur EU, die sich eher formal gehaltene Bekundungen gegenüber Erdogan äußerte, hat sich die arabische und islamische Welt sehr erfreut über den vereitelten Putschversuch gezeigt. Eine Reihe von tonangebenden islamischen Gelehrten bezeichneten den türkischen Staatschef als obersten Führer des Islams weltweit. Al Jazeera zeigte radikale Gruppen in der arabischen Welt, die sich im martialischen Gehabe zu Erdogan bekannten. Bei einer Veranstaltung in Palästina sprach ein Redner sogar davon, dass sie bereitstünden, um in der Türkei den Islam mit Waffen zu verteidigen. 

 

Die Kurden könnten ihre Stunde gekommen sehen und die Zwietracht in den politischen Lagern als Anlass nehmen, um ihre Unabhängigkeitsbemühungen vor diesem Hintergrund noch offensiver durchzusetzen. Doch gleichzeitig könnte nun auch der Druck auf sie erhöht werden. Der Putsch war ein Schwarzer Schwan für die Weltöffentlichkeit, doch kann er - vor allem in dieser Region - noch weitere nach sich ziehen.

Es spricht durchaus einiges dafür, dass Erdogan sich noch weiter vom Westen abwenden könnte. Seit er und Putin sich wieder versöhnlich gegenüberstehen, könnte eine Abwendung von der EU / NATO zur SCO (Shanghai Cooperation Organization) auf seinem Plan stehen, wo China und Russland als Schwergewichte dominieren und vier zentralasiatische Staaten Mitglieder sind.

Zum innenpolitischen Fazit: Der religiös-säkulare Konflikt, der in der Türkei seit der Staatsgründung immer mehr oder weniger intensiv geschwelt hat, ist durch den Putschversuch an einen so noch nie dagewesenen Punkt gelangt. Viele Experten sagen, dass sich Erdogan schon während des Ergenekon-Prozesses mit der obersten Führungsriege arrangiert habe. Die Putschisten wären direkt unterhalb dieser Hierarchie-Ebene angesiedelt. Der „Congressional Research Service“, eine Forschungsabteilung des US-Kongresses, schrieb in einem Bericht, dass Gülen in den Jahren ab 2008 eine wichtige Rolle beim Ergenekon-Prozesse gespielt und ihn genutzt habe, um sich an einigen Widersachern zu rächen. Conclusio: Die Gemengelage ist komplexer als gemeinhin in der Medien dargestellt.

Die Lage in der Türkei ist sehr undurchsichtig. Beim Betrachten und Analysieren der Situation spielen Faktoren wie die Gülen-Organisation und Ergenekon eine zentrale Rolle. Harte Fakten sind hier schon immer sehr rar gewesen. Journalistische und wissenschaftliche Berichte stützen sich daher größtenteils auf Indizien und Vermutungen. Bei der Analyse sollte daher eine Quelle auswirkungsreicher Entscheidungen nicht außer Acht gelassen werden: es ist „Derin Devlet“, der „Tiefe Staat“.

Beitrag senden

Drucken mit Kommentaren?



href="javascript:print();"