Die kommende Jahreswende steht im Schatten der globalen Pandemie, die heute vor zwölf Monaten niemand vorausgesehen hat, bzw. voraussehen konnte. Dieser Hinweis erinnert uns daran, wie schwer es ist, Geschichte vorauszubestimmen - oder, um es mit den Worten von Oswald Spengler auszudrücken, die er in der Einleitung zu seiner Morphologie der Weltgeschichte “Der Untergang des Abendlandes“ wie folgt formulierte:

Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allem Zufälligen und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist?“

Spengler selbst konnte diese Frage nicht eindeutig beantworten, im Gegenteil, sein 1918 beendetes Werk wurde von den Stürmen der Zeit erfasst, was nichts daran ändert, dass es sich um ein lesenswertes Werk handelt, wie der Historiker David Engels feststellt, der vor zwei Jahren - im Interview mit dem Verfasser dieses Beitrages - heute postdemokratische Zustände diagnostizierte.

Inwieweit die Corona-Krise das demokratische Gehäuse der westlichen Gesellschaften nachhaltig beschädigt hat, wird uns die Zukunft zeigen - die nahe Zukunft wohlgemerkt.

Eine chinesische Zukunft?

Fest steht auf jeden Fall, dass die Volksrepublik China ihr weltpolitisches Gewicht weiter ausgebaut hat. Nach der zu Beginn zu langsamen Reaktion auf die Pandemie in Wuhan drohte eine Vertrauenskrise zwischen dem chinesischen Volk und der politischen Führung Chinas. Aber das hat sich inzwischen erledigt.

China steht heute wirtschaftlich wie politisch als der Gewinner der Corona-Krise da. Diese Tendenz, welche schon seit Jahren zu beobachten ist, trifft den Westen mit voller Wucht. Am Beispiel Chinas offenbart sich mit betrüblicher Deutlichkeit, in welchem Ausmaß den Europäern und Amerikanern das geschichtliche Bewusstsein abhandengekommen ist.

Die Fehldiagnose des amerikanischen Politologen Fukuyama vom “End of History” war auf allzu fruchtbaren Boden gefallen. So begegnet die westliche Welt dem phänomenalen Aufstieg Chinas in den Rang der zweiten Weltmacht mit einem Gemisch aus Arroganz und Missgunst. Die explosive Dynamik Chinas erzeugt wachsende Furcht, ja die Ahnung des eigenen Rückfalls in unerträgliche Mittelmäßigkeit. Die an Sinophobie grenzende Abneigung, die immer wieder in der westlichen Berichterstattung über China zu erkennen ist, hängt wohl auch damit zusammen.

Wir sind gut beraten, diese Verschiebung des Weltgefüges aufmerksam, mit kritischer Distanz, aber auch mit Neugier zu betrachten, keinesfalls mit einer massiven Ablehnung.

Viele der westlichen Wortführer, die heute mit der äußerst selektiven Menschenrechtskeule pseudodemokratische Reformen im Reich der Mitte einfordern, während im Westen die demokratischen Grundrechte sukzessive eingeschränkt werden und auch viele Verbündete des Westens weit weniger demokratisch agieren als China, waren ja während der Herrschaft von Mao recht schweigsam, bisweilen sogar heimliche Bewunderer dieses Herrschers.

Wenn der chinesische Drache erwacht, dann wird die Welt erzittern!”,

prophezeite Napoleon vor über 200 Jahren. Bisher hat sich dieser Drache erst im Schlaf gedreht.

Wach auf, Europa!

Europa bleibt weiter dazu gezwungen, sich endlich seiner geographischen und geopolitischen Ausgangslage bewusst zu werden, eine Selbstverständlichkeit eigentlich, die aber immer noch zu wenig die Tagesordnung bestimmt. Führenden Politikern der Bundesrepublik will es nicht gelingen, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Kontinents ohne die Brille Washingtons zu erfassen. Das ist ein Risiko, gar gefährlich, denn Europa bleibt von einem Feuerring aus diversen Krisenherden in Nordafrika, im Nahen Osten und im Südkaukasus umgeben.

Das Ende der Ära Merkel

In der Bundesrepublik wird die Ära Merkel dieses Jahr zu Ende gehen. Zur Stunde ist es zu früh, Prognosen über den Ausgang der Bundestagswahl abzugeben. So viel steht aber fest: die künftige Bundesregierung wird sich außenpolitisch nicht grundlegend anders aufstellen, wenn man von den Realitäten ausgeht.

Die ökonomischen Folgeschäden der Corona-Krise, eine massive Belastung des Mittelstandes, gar eine Verarmung dieser Bevölkerungsschicht, enthält genug sozialen Sprengstoff, um politische Verwerfungen auszulösen. Dieses gilt ungleich stärker für die weltpolitische Lage, wo die Verelendung der Massen, beispielsweise durch den Zusammenbruch des Tourismus, Risiken enthält, die neue Unruhen fürchten lassen.

„Was heißt das für mich konkret!?“

Unsere Zeit macht uns zu Chronisten einer Welt im Aufbruch, aber auch einer Welt in Auflösung. Die beschleunigten historischen Abläufe, die ein Kennzeichen unseres Zeitalters sind, gönnen uns keine Atempause.

Wir erleben eine Welt im Aufbruch und Auflösung, den Aufstieg und Fall großer Imperien, die unaufhaltsame Verlagerung der geopolitischen Machtzentren, vom Atlantik an die Gestaden des Pazifiks. Dadurch entstehen Chancen und Risiken, werden Gewinner und Verlierer produziert. Die Natur des Menschen, von der man keine zu hohe Meinung haben sollte, bleibt aber immer gleich, trotz Internet, W-LAN, Facebook und Hochtechnologie.

Doch aufgrund der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten, von denen unsere unmittelbaren Vorfahren nicht zu träumen wagten, wären wir vielleicht in der Lage, Fehlentwicklungen zu erkennen und darauf zu reagieren. Vielleicht, wohlgemerkt. Ob dieses gelingt, wird uns die Zukunft zu zeigen.

Ihnen wünsche ich einen guten Rutsch ins neue Jahr.

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