Liebe Cashkurs-Community, ich grüße Sie aus Istanbul. Für die nächsten Wochen steht von hier aus eine Recherche-Reise an, die in die Anrainerstaaten der Türkei führt. Bis auf Syrien stehen alle Nachbarländer auf der Liste. Da auch einige ziemlich heikle Regionen darunter sind, wird evtl. das ein oder andere Land nicht zu bereisen sein, falls sich die Sicherheitslage in bestimmten Gebieten zu sehr verschlechtern sollte. Vor Ort stehen u.a. Journalisten, TV-Korrespondenten, Politiker, Diplomaten, Ökonomen und viele andere spannende Interviewpartner zur Verfügung. Eine zentrale Rolle bei den Recherchen spielt der wirtschaftliche Faktor im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“. Sie sind hauptsächlich für ein zweites Buchprojekt gedacht; doch hier auf Cashkurs werden im Vorfeld Auszüge daraus bzw. aktuelle Reiseberichte zu lesen sein.

Touristen aus Ost und West

Die Reise beginnt in Frankfurt, und die erste Station führt in die westtürkische Metropole Izmir. Schon im Boarding-Room des Frankfurter Flughafens fällt auf, dass dieses Jahr fast nur Türkischstämmige unter den Wartenden sind. Diesmal ist so gut wie kein „Bio-Deutscher“ an Bord. In Izmir angekommen, frage ich den Taxifahrer, wie denn das Geschäft mit den Touristen so laufe. Er antwortet, dass seit zwei Jahren kaum noch Kreuzfahrtschiffe am Hafen anlegten. Das liege an der Zuspitzung der geopolitischen Lage, genau genommen seit dem Abschuss des russischen Jets durch das türkische Militär 2015. Die Jahre zuvor habe es Mitte April schon überall von Touristen gewimmelt.

Über weniger Touristen beklagen sich auch die Eigentümer der Goldgeschäfte in der Stadt. Die Einkaufspassagen, in denen sich unzählige Schmuckläden aneinanderreihen, sind geradezu menschenleer; ein sehr ungewohnter Anblick! Im Gespräch sagen die Goldhändler, dass sich der Wegfall westlicher Urlaubsgäste auf jeden Fall bemerkbar mache. Sie verweisen auf verschiedene Prognosen, die in türkischen Wirtschaftssendern immer wieder die Runde machen. Beispielsweise darauf, dass dieses Jahr drei Millionen Touristen aus Russland, zwei Millionen aus dem Iran und eine halbe Million aus China kommen würden. Zugleich erwarteten sie mehr Touristen aus Saudi-Arabien, Katar und Dubai, was ebenfalls für einen gewissen Ausgleich sorgen werde. Ob es sich bloß um eine Hoffnung handelt oder ob die schwächelnde Touristenbranche durch sie wieder gestärkt werden kann, wird sich in den bevorstehenden Wochen und Monaten zeigen.

Der Bauboom ...

Das darauffolgende Reiseziel befindet sich im Landesinneren, ca. 180 km südöstlich von der Küstenstadt Izmir. Der 67-jährige Fahrer ist Atatürk-Verfechter mit Leib und Seele. Wir fahren auf den neu gebauten Autobahnen und durch Städte hindurch, in denen jetzt moderne und ansehnliche Gebäude stehen, die vor zehn Jahren noch nicht dort standen. Darauf angesprochen, stimmt der gute alte Bekannte begeistert zu: In den letzten Jahren habe sich in der Tat viel getan.

Er knüpft thematisch an den Flughafenbau in Istanbul an, wo 2018 der größte Airport der Welt eröffnet werden soll. „Sie wollen nicht, dass die Türkei groß wird.“ Damit meint er den geopolitischen und wirtschaftlichen Einfluss, den der Westen die letzten Jahrzehnte ausgeübt habe, um die Türkei mit aller Macht am Fortschritt zu hindern. Aber jetzt, mit solchen Prestigeobjekten wie dem Flughafen, begegneten sie ihnen auf Augenhöhe. Auch wenn das Mitglied der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP ein entschiedener Erdogan-Gegner ist, sind das genau solche Argumente und Parolen, derer sich auch die Anhänger des Staatspräsidenten zuhauf bedienen. Nach dem Motto: Wir sind wieder wer.

... und die Inflation

Die sieben Familien aus der - teils oberen - Mittelschicht, mit denen zuvor in Izmir Unterhaltungen stattgefunden hatten, waren allesamt besorgt von der zunehmenden Inflation im Lande. Globale ökonomische Faktoren, wie Währungs- oder Handelskriege stehen für sie dabei nicht im Fokus. Sie betrachten es aus der Sicht einer gewöhnlichen Familie, die ihren Alltag finanziell bewältigen will; und das gestaltet sich bei merklich abnehmender Kaufkraft natürlich schwieriger. Zudem bewegt sich die Arbeitslosenquote um die 12 Prozent, so hoch wie seit 2010 nicht mehr. Unter ihnen war ein Schuldirektor, der darüber hinaus noch die Gefahr sah, dass die gigantische Immobilienblase, die in der Türkei entstanden sei, demnächst platzen werde. Ein Anzeichen dafür stellten die rückläufigen Hauskäufe dar.

Nach Meinung des Fahrers, auf dessen Rückfenster seines Autos ein Konterfei von Atatürk zu erkennen ist, sind solche Probleme für die Wirtschaft der Türkei nicht gegeben. Es gäbe keine Immobilienblase. Außerdem sei in einem solchen Fall die Inflation - die er nicht wegdiskutieren kann - gut für den Schuldner, der einen Kredit für den Hauskauf aufgenommen hat. Möglicherweise ist seine Meinung dem Zweckoptimismus geschuldet – von Beruf ist er nämlich Immobilienmakler.

Erdogans Getreue

An dem Tag, an dem Macron zum neuen französischen Präsidenten gewählt wurde, fand ein Gespräch mit einem AKP-Mitglied der ersten Stunde statt. Er nimmt in einem Regierungsbezirk einer ägäischen Stadt eine hohe Position als Politiker ein. Bei einem Schwarztee rühmt er Erdogan dafür, dass sich unter seiner Führung die Infrastruktur so prächtig entwickelt habe. Auch er geht auf den Bau des Istanbuler Flughafens ein. Der Flughafen würde so bedeutend werden, dass er als internationaler Dreh- und Angelpunkt Frankfurt und London ihre Ränge in Europa ablaufen werde. Dies sei einer dieser Gründe, warum sie Erdogan weghaben wollten. Seine Politik sei einfach zu erfolgreich. Deshalb würde versucht, den demokratisch gewählten Staatspräsidenten als Diktator zu diffamieren.

Dabei habe er dem türkischen Volk doch so viel Fortschritt und Lebensqualität beschert. Das habe keiner seiner Vorgänger bisher erreichen können. Er nennt eine Reihe von Beispielen: Wer älter als 65 Jahre ist, kann öffentliche Verkehrsmittel kostenlos nutzen. Für Fernbusse und die Bahn erhalten sie einen Rabatt von gut einem Drittel. Die frisch gebaute Straßenbahn in Izmir darf im ersten Monat der Eröffnung jeder nutzen, ohne etwas zu bezahlen – und das kommt bei der Bevölkerung an. Immer mehr Menschen können ein Auto ihr Eigen nennen. Was er nicht erwähnt: Die Anzahl der Autos steigt zwar, aber die ohnehin miserable Parkplatzsituation verschlechtert sich in gleichem Maße...

Mit der Reform des Gesundheitssystems sind vor allem die arme Bevölkerung und die Menschen der (unteren) Mittelschicht zufrieden. Im Vergleich zur Ära vor Erdogan hat sich die Kranken- und Medikamentenversorgung sowie der medizinische Behandlungsstandard für sie deutlich verbessert. Die Umgestaltungen des Gesundheitswesens hatten schon in den ersten Jahren seiner Regentschaft dazu geführt, dass er bei diesen Bevölkerungsschichten an großer Popularität gewonnen hat.

Strippenzieher und Wirtschaftskrieg

Während wir an weiteren diversen innenpolitischen Themen wie dem Bildungswesen dran sind, läuft im Hintergrund ein Nachrichtensender. Obwohl der Ton auf stumm geschaltet ist, zieht das plötzliche Leuchten und Blinken irgendwelcher „Breaking News“-Schriften die Aufmerksamkeit auf sich, und das nun rot gefärbte Laufband rotiert geradezu. Die Meldung: Macron ist neuer französischer Präsident. Sein erster Kommentar dazu: „Jetzt haben die Rothschild diesen Mann dort platziert, wo sie ihn haben wollten, um Europa weiter zu destabilisieren.“ Schon der politische Ziehvater Erdogans, der frühere Ministerpräsident Necmettin Erbakan, sprach von den Rothschild bzw. den Freimaurern, die hinter den Kulissen der Weltpolitik die Strippen ziehen sollen.

Von den Rothschilds leitet er über zum Schuldgeldsystem, dass sie vor über 100 Jahren etabliert hätten. Die FED sei von privaten Banken geführt, und im Gesamtkontext sei der Zinseszins-Effekt elementar. Das Quasi-Monopol der Leitwährung Dollar sei ein Mittel, um die anderen Länder zu kontrollieren. Deshalb wird in Info-Sendungen und TV-Talkshows erklärt, dass die Türkei bald bilateralen Handel mit Russland in ihren eigenen Währungen abwickeln wird, um den US-Dollar zu umgehen und seine Dominanz zu brechen. Gleiches ist auch mit China geplant.

Als die türkische Lira (TL) stark gegenüber dem Euro und dem US-Dollar an Wert verlor, rief Erdogan Ende letzten Jahres dazu auf, US-Dollar in TL zu wechseln sowie Gold dafür zu kaufen. Schon ein gutes Jahr davor sprach er vom „Ekonomik Kurtuluş Savaşı“, dem wirtschaftlichen Befreiungskampf. Dieser Begriff „Befreiungskampf“ ist stark mit Atatürk verwoben und beschreibt den Kampf gegen die Besatzermächte nach dem Ersten Weltkrieg. Er bedient sich ganz subtil und geschickt des althergebrachten Heroismus, die die Türkei seit dem Gründungsvater der türkischen Republik prägten. Schlagworte wie „amerikanischer Imperialismus“ sind durchaus häufiger in den Medien zu hören; nicht nur im militärischen Sinne, sondern auch im ökonomischen.

„Verschwörungsmedien“ und Theorien für die Masse

Selbstverständlich werden der Krieg in Syrien sowie die Kämpfe gegen den IS und die PKK, die zum Teil sehr nah an der türkischen Grenze stattfinden, von der Bevölkerung viel intensiver wahrgenommen und dementsprechend beobachtet. Dass die USA die YPG, den syrischen Arm der PKK, mit Waffen versorgt, ist ein großer Zankapfel mit US-Präsident Trump. Die Zerwürfnisse mit den Vereinigten Staaten respektive der NATO kamen schon 2013 ins Rollen, nachdem die Türkei Raketenabwehrsysteme aus China gekauft hatte. Es ist üblich, dass NATO-Mitglieder Waffen von den Mitgliedern des eigenen Bündnisses erwerben. Nachdem sich die Fronten - insbesondere in den letzten Wochen - zunehmend verhärtet hatten, werden die Stimmen in der Türkei immer lauter, militärisch viel stärker mit China und Russland zusammenzuarbeiten. Die Türkei war in punkto Arsenal immer von der NATO, vor allem den USA mehr oder weniger abhängig. Dass sie nun in der Lage sind, immer mehr Waffen selbst zu entwickeln und herzustellen, trifft bei der höherschlagenden Anti-Amerikanismus-Welle einen Nerv bei den Patrioten und Nationalisten verschiedener politischer Lager.

Dass hinter der Unterstützung der kurdischen PKK und YPG, die in der Türkei als Terrororganisationen eingestuft sind, Israel stecken soll, scheint eine weit verbreitete Ansicht zu sein. In den zahlreichen Nachrichtensendern der türkischen Massenmedien, von denen es heißt, dass sie zu 90 Prozent Erdogan-nah sind oder unter seinem Einfluss stehen, fallen schon einmal Worte wie Zionismus oder Großisrael. Was in westlichen Massenmedien nur bei Erwähnung der Begriffe umgehend als Verschwörungstheorie abgetan werden würde, ist in den türkischen relativ präsent und salonfähig. Die jüdischen Zionisten würden die Kurden benutzen, um die Türkei aus dem Gleichgewicht zu bringen und aufzulösen. Das entstehende Chaos für sich nutzend, soll über die kommenden Jahre und Jahrzehnte ein Großisrael errichtet werden. Es gibt verschiedene Varianten von Landkarten auf denen es im TV oder entsprechenden sozialen Medien abgebildet ist. Meist werden Teile der Türkei, Syriens, Iraks, Jordaniens, Ägyptens, Kuwaits, Libanons und Saudi-Arabiens gezeigt, die von Israel sukzessive einverleibt werden sollen. Eine Eskalationsspirale, die auf der Ebene eines Medienkrieges ausgetragen wird.

Fazit

Als Atatürk die post-osmanische Türkei gestaltete, wurde der Säkularismus rigoros durchgesetzt. Das bedeutete beispielsweise, dass Razzien in Koran-Schulen durchgeführt wurden, die nicht unter staatlicher Aufsicht standen. Auf solche Maßnahmen, die in den 1930ern bis in die 1950er einen Hochpunkt erreichten, wurden von islamisch Denkenden als Repressalien empfunden, worauf Erdogan-Anhänger heutzutage noch verweisen. Im Zuge dessen wird auch auf mehr oder weniger sachte Art und Weise an dem Personenkult des Übervaters Atatürk gerüttelt. In den Schaufenstern von Buchläden sind Bücher mit Titeln wie „War Atatürk ein Freimaurer?“ zu lesen. Vor 20 Jahren wäre das - zumindest nicht ohne Konsequenzen befürchten zu müssen - noch nicht denkbar gewesen.

Europa, das durch die Erzählungen Gastarbeiter geradezu hochstilisiert und in den 70ern und 80ern von nicht wenigen sogar als eine Art Sehnsuchtsort angesehen wurde, hat ihre Anziehungskraft verloren. Die starke Kooperation mit der USA unter der Ägide einer kemalistisch dominierten Armee wurde von Erdogan beendet. Die militärische Übermacht der USA wird von einem Großteil der Bevölkerung nicht mehr als bedrohlich angesehen. Auf die EU und die NATO können sie getrost verzichten, so eine weit verbreitete Einstellung. Dessen, dass die Türkei bloß ein geopolitischer Spielball war, sind nationalistische Lager jeglicher Couleur überdrüssig. 

Dass Erdogan Fortschritt und Lebensqualität gebracht hat, ist die Grundhaltung vieler. Ob die weiter zunehmende und enorme Machtfülle, die dem Präsidenten nach dem Referendum zuteil wird, politikwissenschaftlich oder rechtsstaatlich gesehen sinnvoll ist, steht nur auf einem anderen Blatt. Diese Fragestellung scheint für das Gros der Erdogan-Anhänger nicht einmal ansatzweise relevant zu sein. Die größte Oppositionspartei CHP ist wie eh und je zerstritten. Vor allem auch in solchen Zeiten, in denen sie im Sinne eines Eigeninteresses zusammenhalten sollten. Das wird von ihren Wählern stark kritisiert.

Dieser Artikel soll zum Auftakt einen ersten Eindruck aus dem politischen und wirtschaftlichen Alltag in der Türkei vermitteln. Die aufgegriffenen Beispiele aus persönlichen Begegnungen und Gesprächen spiegeln (nach persönlicher Wahrnehmung...) die grundlegenden gesellschaftlichen Einstellungen und Gegensätze wider, die in dem Land vorherrschen. Der nächste Artikel wird auf das Thema „Neue Seidenstraße“ eingehen, das hier medial stark im Mittelpunkt steht.

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