Gastbeitrag von Bernd Murawski

Zum ersten Teil dieses Beitrages geht es hier.


 

3. Konflikte innerhalb der westlichen Gemeinschaft

Der Zweck jedes demokratischen Disputs ist die Suche nach Kompromissen zwischen divergierenden Interessen. Solche sind der bereits thematisierte Zwist zwischen Wirtschaftsakteuren und Gesamtgesellschaft. Den Wünschen und Zielen beider Seiten wird eine Berechtigung zugesprochen, sodass von jedem Abstriche erwarten werden, denn Win-win-Situationen sind eher die Ausnahme als die Regel. 

Innerhalb des Wirtschaftssektors stehen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüber. Erstere verfügen über quasi diktatorische Vollmachten, die sie auch maximal umsetzen würden, hätte ihnen Gewerkschaften nicht Kompromisse abgerungen und gäbe es keine gesetzlichen Schranken. Die alte APO-Losung „Die Demokratie endet am Fabriktor“ besitzt weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit, ja sie wird durch die gegenwärtige Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte in den EU-Ländern noch bekräftigt. Dass Unternehmen ein demokratiefreier Raum sind, wird von unseren Politikern nicht problematisiert, da sie Eigentumsrechten den Vorrang geben. Stattdessen verweisen sie auf veränderte Rahmenbedingungen globaler Konkurrenz, die neue Kompromisse zu Lasten der Arbeitnehmer verlangen.

Konfliktlösungen bedarf es in allen Bereichen der Gesellschaft. Deren Notwendigkeit resultiert aus Interessenunterschieden von Einzelpersonen, Gemeinschaften, Kommunen und schließlich Staaten. Für die Erörterung und Beilegung zwischenstaatlicher Kontoversen gibt es internationale Organisationen. Einige sind nur offen für Länder, die das westliche Demokratieverständnis teilen, wie die OECD, die NATO, die G7 und die EU. Jene Staaten, so wird fortwährend betont, verbinden gleiche Wertvorstellungen. Zwar wird eingestanden, dass manche von ihnen nur sehr begrenzt den gewünschten Kriterien entsprechen. Der erklärte Wille der Eliten sowie die Möglichkeit einer Einflussnahme von außen, meist über wirtschaftliche Instrumente, wird jedoch als ausreichend für die Verleihung des Demokratie-Siegels angesehen.

Von der Wertegemeinschaft zur Schicksalsgemeinschaft

Aus der Wertegemeinschaft wurde allmählich eine Schicksalsgemeinschaft, die Loyalität und Gefolgschaft verlangt. Falls erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen wie etwa in der Frage des Angriffs auf den Irak im Jahr 2003, dann werden diese als „Dissens unter Demokraten“ abgehandelt. Wenn dagegen die russische Regierung dem erklärten Mehrheitswillen der Krim-Bewohner nachkommt und die Halbinsel Russland angliedert, wird ein aggressiver Akt registriert. In beiden Fällen sind Völkerrechtsverletzungen geschehen, doch dürfte außer Frage stehen, welche gravierender waren.

Bei der Beurteilung von politischen Äußerungen, Programmen und Aktionen ist maßgebend, ob deren Urheber als Repräsentant westlicher Wertvorstellungen akzeptiert ist. Erst im zweiten Schritt wird auf den Inhalt Bezug genommen. So werden Wladimir Putin trotz moderater Stellungnahmen unlautere Absichten unterschoben. Ob sich dagegen Medien über George W. Bushs markige Sprüche ärgern oder ihn verhöhnen, ändert nichts an der Tatsache, dass er dem demokratischen Spektrum zugeordnet bleibt.

Die strikte Trennung in Demokratiefreunde und -feinde trübt zuweilen den Blick für die Realität und nagt an der Glaubwürdigkeit westlicher Werteträger. So wird Russland dafür gescholten, dass Homosexuellen das demokratische Recht öffentlichen Auftretens untersagt wird. Wenn aber texanische Homosexuelle durch Therapie konvertiert werden sollen, bleibt es bei Appellen, ja es wird mancherorts um Nachsicht angesichts zugrunde liegender religiöser Motive gebeten. Sogar die Schikane ganzer Volksgruppen wie der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten oder der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum wird stillschweigend geduldet. Werden die betreffenden Regierungen bei speziellen Anlässen ermahnt, dann wird häufig Verständnis angesichts vermeintlicher Bedrohungen geäußert.

Verhaltene Kritik an den USA

Begreiflicherweise stoßen gelegentliche Kapriolen der westlichen Führungsmacht in Europa auf Befremdung und Ablehnung. Allerdings bemühen sich die Leitmedien redlich um ein positives Image der USA, sei es durch Beschönigung, durch Verharmlosung oder durch Verschweigung  unangenehmer Fakten. Dabei wird immer wieder die Wertegemeinschaft beschworen, die Europa mit Nordamerika verbindet. Da US-amerikanische Verantwortliche bereits zu Ende des Zweiten Weltkrieges die bedeutende Rolle der Medien erkannt haben, wurden keine Mühen gescheut, deren führende europäische Repräsentanten in transatlantische Think Tanks einzubinden.

Die Kritik von EU-Politikern an US-amerikanischen Vorgaben hält sich in Grenzen, wenn auch Interessendivergenzen konstatiert werden. Meinungsverschiedenheiten resultieren aus der unterschiedlichen geographischen Lage, ebenso sind sie historisch-ideologisch begründet.  Zaghaftigkeit und Duckmäusertum auf Seiten der Europäer fordern indessen ihren Tribut. So setzen sich die USA überwiegend mit ihren Vorstellungen durch, wobei sie auf eine Unterstützung durch mittel-ost-europäische Staaten bauen können.

Dennoch orten sich unsere Politiker in einem Klub von Demokraten, die sich bei strategischen und taktischen Überlegungen unterscheiden mögen, aber doch nicht in ihren Werten. So besteht Konsens, dass Regierungen mit einem erheblichen Machtpotential wie etwa die russische oder die iranische eine latente Bedrohung darstellen, die einer Antwort bedarf. Die Präsenz US-amerikanischen Militärs in Europa wird daher auch von vielen Amerikaskeptikern als Schutzfaktor angesehen.

4. Angelsächsisches Schmarotzertum

Gelingt noch der Schulterschluss innerhalb der westlichen Welt in politischen Fragen, so gibt es bei wirtschaftlichen Themen tiefe Meinungsverschiedenheiten. Diese beruhen insbesondere auf der skrupellosen Art der US-Amerikaner, sich zu Lasten ihrer Verbündeten wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Das Resultat kann anhand der Entwicklung der Leistungsbilanz begutachtet werden.

Das Leistungsbilanzdefizit ist augenscheinlich seit jenem Zeitpunkt kräftig gewachsen, als die USA den Status der einzigen Weltmacht erlangten. Unter Ökonomen besteht weitgehender Konsens, dass die wirtschaftlichen Vorteile zu einem wesentlichen Teil in der Position des Dollars als Leitwährung begründet sind. So kann die Zentralbank unbeschränkt frische Dollar drucken, um internationalen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.

„DiePresse.com“ weist in einem Artikel darauf hin, dass allein der Dollar-Bargeldbestand 500 Milliarden überschreitet. Dieser wie auch die US-Staatsanleihen befinden sich zu einem bedeutenden Teil in ausländischer Hand, sodass nicht einmal ein Wertverlust des Dollar die USA sonderlich tangieren würde, dafür die Gläubiger anderer Staaten desto mehr. Als Beispiel wird die achtprozentige Abwertung im Jahr 2007 erwähnt, durch die rund zwei Drittel des damaligen Leistungsbilanzdefizits de facto getilgt werden konnten.

Neben den USA ist deren engster europäischer Verbündeter, Großbritannien, von chronischen Leistungsbilanzdefiziten betroffen, wie das folgende Schaubild zeigt. Die Defizite im Außenhandel wuchsen mit dem Rückgang der Rohölförderung, die seit ihren Höchstständen zur Jahrtausendwende um mehr als die Hälfte absackte. Dennoch erholte sich das britische Pfund nach dem Tief während der Finanzkrise überraschend gut und konnte bis zum erneuten Einbruch infolge des Brexit das frühere Niveau erreichen. Das Vertrauen der Finanzmärkte ist offenbar unerschütterlich.

Vom Team der „Querschüsse.de“ wurde errechnet, dass im Jahr 2013 „die Netto-Auslandsschulden der englischen Volkswirtschaft sogar recht deutlich zurückgegangen (sind), obwohl auch in diesem Jahr wieder ein Leistungsbilanzdefizit bestand“. Es wird weiter ausgeführt, dass Großbritannien seit Anfang der 80er Jahre „fast 800 Milliarden Euro weniger Schulden angehäuft (hat) als es eigentlich qua seiner Defizite in der Leistungsbilanz haben sollte. Das sind gut 40 Prozent der Wirtschaftsleistung von 2013. Kein schlechtes Geschäft.“

Rettung durch Finanztransaktionen

Wie gelingt es den Angelsachsen beiderseits des Atlantiks, ihre Zahlungsbilanz angesichts immenser Defizite auszugleichen? Die zu schließende Finanzierungslücke wird als Kapitalbilanz bezeichnet. Sie besteht aus Direktinvestitionen, Wertpapieranlagen, Finanzderivaten und dem Kreditverkehr.

Während sich die in den USA getätigten ausländischen Direktinvestitionen zwischen 2000 und 2013 um 77 Prozent erhöhten, wuchs der entsprechende US-Bestand im Ausland um 136 Prozent. Dadurch entstand ein Nettoverlust für die US-amerikanische Volkswirtschaft, der sich bis 2013 auf 1415 Milliarden $ summierte. Angesichts dieses Mittelabflusses ist der Kompensationsbedarf zur

Erzielung einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz nochmals um einiges größer. Wie die folgende Grafik verdeutlicht, wurde die finanzielle Kluft zu einem erheblichen Teil durch Verschuldung beim Ausland verringert.

Im Gegensatz zu den USA konnte Großbritannien im gleichen Zeitraum einen Nettozufluss durch Direktinvestitionen von 181 Milliarden $ verbuchen. Wird allerdings 2005 als Ausgangsjahr gewählt, schmilzt der Betrag auf 86 Milliarden $, und seit 1995 ist er sogar um 173 Milliarden $ rückläufig. Offenbar wurden die britischen Defizite durch Auslandsverschuldung mitfinanziert, wofür der Tatbestand spricht, dass zwischen 1995 und 2012 zusätzliche Verbindlichkeiten in Höhe von 67 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entstanden - bei einem um 18 Prozentpunkte niedrigeren Vergleichswert der Gesamt-EU. Den Rest der Finanzierungslücke stopften Geldanlagen bei britischen Finanzhäusern.

Trotz Direktinvestitionen fiel der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Wertschöpfung auf 20 Prozent und befindet sich damit auf US-amerikanischem Stand, während der EU-Durchschnitt um fünf Prozentpunkte höher liegt. Tritt der Brexit-Fall ein, dann ist ausländisches Wirtschaftsengagement in Großbritannien gefährdet, da das Land gegenwärtig vielen Investoren als Exportplattform für die EU dient. Vor diesem Hintergrund und angesichts des geringen Anteils der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt erscheint der aktuelle Wertverlust des britischen Pfundes als gerechtfertigt.

Die wachsende Rolle des Finanzsektors

Die parasitäre Existenz der USA und Großbritanniens beruht nicht allein auf Kapitaltransfers. Angesichts der schwachen produktiven Basis ihrer Volkswirtschaften bedarf es Exportschlager außerhalb der Güterproduktion, mit denen sich Geld verdienen lässt. Solche sind Finanzdienstleistungen aller Art. Das folgende Schaubild zeigt die bedeutende und tendenziell wachsende Rolle der Finanzwirtschaft in beiden Staaten.

In Bezugnahme auf den hier verwendeten Begriff „Bruttowertschöpfung“ merktAlbrecht Müller an, dass es sich bei dem Gros der Finanzdienstleistungen nicht um Werte, sondern um volkswirtschaftlich unnütze Tätigkeiten handelt. Er führt aus:

 

„Die Spitzen der Finanzwirtschaft, die Investmentbanker, Broker, Börsen und Agenten haben entdeckt, dass sie mit dem Betrieb von Casinos, mit Spekulationen, mit Wetten und allerlei sonstigen neu erfundenen Finanzprodukten sehr viel mehr verdienen. Sie haben weiter entdeckt, dass sie mit ständigen Transaktionen von Vermögenswerten, von Aktienpaketen und ganzen Unternehmen auf leichte Weise um Potenzen mehr verdienen als mit der traditionellen Aufgabe des Kapitalmarktes, der Vermittlung zwischen Sparern und investierenden Unternehmen. Also haben sie ihre Energie auf den Casinobetrieb konzentriert und dabei Milliarden beiseite geschafft.“

 

Das Geschäft mit Finanzprodukten ist deshalb besonders attraktiv, weil die Anleger das volle Risiko tragen. Bei den in Rechnung gestellten Leistungen sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. So werden Beratungs-, Vermittlungs-, Bearbeitungs- und Transfergebühren erhoben, Kauf-, Verkaufs-, Umschichtungs- und Aufbewahrungskosten verlangt sowie Provisionen, Sonderabgaben, Depotkosten, Kontogebühren und Aufwandsentschädigungen berechnet. Diese Liste lässt sich beliebig verlängern.

Die dominante Stellung der angelsächsischen Finanzplätze

Von den Einnahmen aus Finanzgeschäften profitieren allen voran die Londoner City und die Wallstreet als weltgrößte Finanzplätze. So lagen die USA 2011 mit 12,5 Billionen $ ausländischer Geldanlagen vorn, gefolgt von Großbritannien mit 7,6 Billionen $. Mit 4,4 Billionen $ befindet sich Deutschland abgeschlagen auf Platz drei. Gemessen an der Offshore Intensity Ratio stehen zehn Steueroasen gegenwärtiger oder ehemaliger britischer und US-Kolonien an der Spitze. Erst an 11. Stelle findet sich Luxemburg. Allein auf den Cayman-Inseln lagern ausländische Assets im Wert von 3,5 Billionen $, d.h. nur rund 20 Prozent weniger als in Deutschland. Da jene Ministaaten vollkommen auf die Gnade ihrer „Mutterländer“ angewiesen ist, kann getrost von Außenstellen des Finanzplatz-Spitzenduos gesprochen werden.

Die Interessendifferenzen lassen sich anhand der Reaktionen auf die „Panama-Papers“ erkennen. Bei der Anschwärzung Putins und anderer in Ungnade gefallener Herrscher gab es noch den Schulterschluss. Bald zeigte sich aber, dass die Forderungen der Kontinentaleuropäer jenseits des Atlantiks kaum Gehör finden. Stattdessen locken US-amerikanische Steueroasen wie Delaware, Wyoming und Nevada Finanzinvestoren an, die bislang ihr Vermögen in Panama oder in der Schweiz in Sicherheit glaubten. Gleichzeitig hat sich das Thema „Panama-Papers“ wie durch eine unsichtbare Hand gesteuert aus der Medienberichterstattung weitgehend verabschiedet.

Bedeutende Finanzmetropolen finden sich nicht nur im Einflussbereich der USA und Großbritanniens. Auch Singapur gehört dazu, und anderswo unternehmen Länder und Städte Anstrengungen, um an den wachsenden Aktivitäten im Finanzsektor zu partizipieren. Deren Lebenssaft bilden anlagesuchende Geldmittel, die sich in der Hand von wohlhabenden Privathaushalten, bei institutionellen Anlegern sowie im Besitz von Staaten mit enormen Außenhandelsüberschüssen befinden. Steigende Vermögen sind daher der wichtigste Garant für einen andauernden Boom an den globalen Finanzplätzen.


Dieser Beitrag ist am 7. August d.J. zuerst auf der Heise-Plattform "Telepolis" veröffentlicht worden.

Den dritten und letzten Teil dieses Beitrages werden wir am morgigen Freitag auf Cashkurs online stellen.

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