… und es klappt doch mit dem Wintertourismus

Einem Rheinländer Karneval erklären zu wollen, klingt zunächst in etwa so, wie es der berühmte Spruch von den nach Athen getragenen Eulen impliziert. Und doch ist der griechische Karneval älter, als sein rheinisches Pendant. Über das gesamte Land verteilt gibt es die traditionelle Version mit Dionysischem und antiken Touch – Umzüge mit riesigen Phallussymbolen.

Im peloponnesischen Patras und im thrakischen Xanthi wird dem Besucher ein Straßenkarneval präsentiert, bei dem rheinischen Besuchern nur das fehlende „Alaaf“ als Unterschied auffällt. Im Hafenort Galaxidi bewerfen sich die griechischen Jecken mit Mehl. Durch Athen spazieren in den letzten Jahren immer wieder Gruppen von als Zombies verkleideten Jugendlichen, während der Vorort Renti eine wenn auch abgespeckte Version des Straßenkarnevals bietet.

All diese Ereignisse ziehen Besucher aus der näheren und im Fall von Patras, Xanthi und Galaxidi ferneren Umgebung an. Eine Option, welche die Verantwortlichen der 120.000 Seelen Gemeinde Chalkida auf Euböa für ihre Stadt attraktiv fanden. Die meisten dieser Veranstaltungen konzentrieren sich auf den Sonntag vor Beginn der mit dem „reinen Montag“ einsetzenden Fastenzeit. Heuer fällt das Osterfest der Ostkirchen mit dem der Katholiken und Protestanten zusammen, so dass der diesjährige Gipfel des Karnevals in Griechenland zeitgleich mit dem deutschen Karnevalssonntag lag. Üblich ist dagegen, dass das orthodoxe Auferstehungsfest später als das katholische Pendant terminiert ist.

Eine Inselstadt „erfindet“ die Tradition neu

Euböa, die zweitgrößte griechische Insel, siebendgrößte im Mittelmeer ist als Naherholungsgebiet für Athener und Bewohner Zentralgriechenlands eine Option. Nahezu den gesamten Sommer über eilt „halb Athen“ in die per Bus, Zug oder PKW knapp eine Stunde Fahrzeit entfernt liegende Stadt Chalkida. Im Winter liegen die touristischen Infrastruktureinrichtungen brach. Hotels in der Umgebung von Chalkida schließen, in Badeorten wie dem von Chalkida aus zwanzig Minuten entfernt liegenden Politika sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Industrielle Arbeitsplätze liefern die Hühnerzucht und Verarbeitung, die Sojaverarbeitung, und der Metallkonzern Larco. Die örtliche Zementfabrik befindet sich wegen der drohenden Schließung seit knapp vier Jahren im Streik, die Werft von Chalkida arbeitet auf Sparflamme. Der Winterschlaf betrifft auch die Ouzo-Lokale rund um Chalkida, welche von Frühjahr bis Herbst eine preiswerte Option für kurz dem Alltag entfliehende Athener sind. Pauschaltourismus ist eher unbekannt.

Chalkida liegt zu mehr als zwei Dritteln auf Euböa, ein Drittel liegt auf dem Festland. Verbunden sind die Stadtteile mit zwei Brücken – der „alten Brücke“, die für die Durchfahrt von Schiffen mindestens einmal am Tag zusammengeklappt wird und einer großen Hängebrücke im Süden der Stadt.

Um die alte „Brücke des Evripos“, wie die Klappbrücke auch genannt wird, herum spielt sich ein in Griechenland einzigartiges Phänomen der Ebbe und Flut ab. Das Meer fließt sechs Stunden in die eine und die nächsten sechs in die andere Richtung. Verrückte Wasser, oder direkt auf Englisch, „Crazy Waters“ nennen die Einheimischen das Phänomen. Für die Schifffahrt sind diese Bedingungen eher lästig, es kommt mehrmals vor, dass größere Schiffe wegen der wechselnden Strömungsverhältnisse vom Kurs abkommen und am Rand der Brücke entlangschrammen. Was für Schiffsführer ein Ärgernis ist, bietet den örtlichen Kanuten perfekte Trainingsbedingungen. Regelmäßig holen sich die Ruderer aus Chalkida die nationale Meisterschaft, sie stellen das Korsett der Nationalmannschaft.

Mitten in der Krise machten die Chalkidäer aus der Not eine Tugend. Erstmals 2016 organisierten sie einen „Karneval im Meer“, der in Europa am ehesten beim Karneval in Venedig ein Pendant hat:

https://vimeo.com/205924787

Mehr als 25.000 Besucher fanden sich ein, als am Karnevalsonntag 2016 Piraten die Meerenge des Evripos unsicher machten. Für 2017 wurden die Planungen erweitert. Es fand eine Karnevalsession im Meer statt. Am 5. Februar begannen die Aktionen der Karnevalisten auf dem Meer. Sie gipfelten mit einer imposanten Show, dem „Kampf der Titanen“ am 26. Februar. Die lange Vorlaufzeit sorgte für steigendes Medieninteresse. Die nächtliche Wasserschlacht von Gottvater Zeus, Meeresgott Poseidon, der im Meer umherfahrenden Sterblichen und fliegenden sowie schwimmenden Meeresungeheuer lief live über landesweite Fernsehsender. Die Organisatoren hatten den Beginn ihrer Veranstaltung geschickt später als das Ende der Feste in Patras und Xanthi terminiert.

Konzertierte Aktion als Sparmodell

Der Höhepunkt zog weit mehr als 30.000 Besucher an, das Mobiltelefonnetz der Region fiel wegen Überlastung aus. Die griechischen Jecken ließen sich selbst vom strömenden Regen nicht abschrecken, sie genossen das Schauspiel.

Die Hotels in Chalkida waren während der drei Wochen nahezu ausgebucht, selbst Kilometer entfernt liegende, ansonsten nur im Sommer geöffnete Herbergen konnten bei der kurzzeitigen Öffnung für die Karnevalsperiode sämtliche Zimmer vermieten.

Der Einzelhandel Chalkidas wurde belebt, indem in „weißen Nächten“  an zwei Samstagen die Einkaufsmeilen über Nacht geöffnet blieben und die feiernden Gäste der Stadt so zum Shopping verführt wurden. Die Chalkidäer waren vor der Krise für ihr Faible für Mode bekannt. Die Rezession der letzten neun Jahre hatte erstmals dazu geführt, dass Modegeschäfte schließen mussten. Die Reportagen über die drei Karnevalswochen gaben lokalen Produzenten von Agrarprodukten die Gelegenheit, örtliche Spezialitäten einem größeren Publikum zuzuführen.

Das, was die Neuerfindung des Karnevals in Chalkida jedoch zu einem Erfolg macht, ist das Finanzierungskonzept. Die imposanten Nachbauten antiker Schiffe und Boote wurden ebenso wie die bis zu neun Meter großen, schwimmenden Götterstatuen von der Werft gespendet. Diese bekam durch den Event eine dringend benötigte Werbeplattform. Die Kanuten und Rudermannschaften nutzten ihre Beteiligung für kostümierte Trainingseinheiten unter erschwerten Bedingungen. Kurz, nahezu die gesamte Stadt investierte brach liegende Ressourcen für ein gemeinsames, kreatives Unterfangen. Für die nächsten Jahre planen die Organisatoren eine Ausweitung ihrer Karnevalsklientel. Da hoffen sie auch auf Rheinländer, denen am Aschermittwoch nicht nach Buße, sondern nach Weiterfeiern zumute ist, und die dann den späteren Karnevalshöhepunkt in Griechenland für ein einzigartiges Erlebnis nutzen möchten.

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