Herr Prof. Dr. Teltschik, in Kürze feiert die NATO ihren 70. Gründungstag. 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme in Mittel-Osteuropa ist die Frage erlaubt, wie es um den Zustand des Nordatlantischen Verteidigungspaktes steht? Frankreichs Präsident Macron hat diese in einem Interview mit dem britischen Magazin "Economist „wie folgt beantwortet: "Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der NATO“. Würden Sie dieser Analyse zustimmen?

H.T: Der französische Präsident Macron ist bekannt dafür, dass er immer wieder wichtige, auch Frankreich übergreifende Themen öffentlich aufgreift und sie so zuspitzt, dass sie ein erhebliches Echo in der Politik wie in den Medien auslösen. Das hat er mit programmatischen Reden zur Europapolitik getan und jetzt zur NATO – Politik, wobei er im Kern durchaus ein wichtiges Problem anspricht. Das wirkt stets wie ein Paukenschlag. Die Bedeutung der NATO wurde ja zu allererst von Präsident Trump relativiert, wenn nicht sogar in Frage gestellt. Macron vermisst zurecht eine gemeinsame Antwort der Europäer. Die Schwäche seines Vorstoßes liegt darin, dass er ihn nicht vorher vertraulich mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen europäischen Regierungschefs besprochen hat.

Kurz nach den Feierlichkeiten in Berlin zum 9.November 1989 fordern führende Politiker in der Bundesrepublik und der EU eine massive Aufrüstung. Ursula von der Leyen, die designierte EU-Kommissionspräsidentin, erläuterte in einer Rede vor der Konrad-Adenauer Stiftung, "Soft power allein" reiche "heute nicht mehr aus": "Europa muss auch die 'Sprache der Macht lernen'! Einerseits gelte es deshalb, "eigene Muskeln ... in der Sicherheitspolitik" aufzubauen; andererseits müsse die Union mit "Blick auf die äußeren Interessen Europas strategischer werden.“ Was halten Sie von diesen Worten Ursulas von der Leyen?

H.T: Die Rede der EU – Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen könnte man fast als eine erste Antwort auf Macrons Interview verstehen. Was mir eindeutig zu kurz kommt, ist eine strategische Debatte über die außenpolitischen Ziele und Interessen der EU – Mitgliedsstaaten. Was sind eigentlich unsere Ziele, die wir erreichen wollen? Welche Mittel wären dafür erforderlich. „Eigene Muskeln …in der Sicherheitspolitik“ aufzubauen, macht ja nur Sinn, wenn ich den Bürgern erklären kann, welche Ziele ich verfolgen will und welche Instrumente dafür erforderlich sind. Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident Francois Mitterand hatten schon 1988 einen gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsrat und eine integrierte deutsch – französische Brigade beschlossen. Sie sollten den Kern für eine gemeinsame europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bilden. Leider ist daran nicht weiter gearbeitet worden.

In Ihrem Buch "Russisches Roulette - die Krise in der Beziehung zwischen Russland und der NATO“ analysieren Sie, dass die NATO mehr Grund zur Selbstkritik habe, als allgemein im Westen angenommen. Ferner plädieren Sie leidenschaftlich dafür, dass die aktuelle Konfrontationspolitik der NATO dringend durch Kompromissbereitschaft und Verhandlungen ergänzt werden müsse. Weshalb finden Ihre Worte bei den heutigen Verantwortlichen kaum Gehör?

H.T: In der Tat bin ich der Meinung, dass viele Chancen, die sich aus der friedlichen Revolution in den Jahren 1989/91 ergeben hatten, von beiden Seiten nicht genutzt wurden. Gründe dafür gibt es natürlich viele. Als Ergebnis haben wir militärische Auseinandersetzungen in Georgien und in der Ukraine erlebt, die Verhängung von Sanktionen, die Aufkündigung von Abrüstungsvereinbarungen und den Beginn einer neuen globalen nuklearen und konventionellen Aufrüstung. Keine Seite hat bisher die Initiative für umfassende Abrüstungsverhandlungen ergriffen. Ein erster Hoffnungsschimmer in den Beziehungen zu Russland könnte das Anfang Dezember geplante Treffen im sogenannten Normandie – Format der vier Regierungen: Russland, Ukraine, Frankreich und Deutschland, sein, um den Konflikt in der Ostukraine beizulegen. Auch Präsident Macron hatte dieser Tage auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Beziehungen zu Russland wieder zu aktivieren. Das letzte Angebot von Präsident Putin zur Wiederaufnahme von Gesprächen war ansonsten ohne Echo geblieben.

Sind Sie der Auffassung, dass Politiker aus der Generation von Kohl, Genscher, Schmidt und Bahr, anders auf die aktuellen außenpolitischen Herausforderungen reagiert hätten? Wenn ja, würde das daran liegen, dass die erwähnten Politiker einer Generation angehörten, die noch die Kriege des 20.Jahrhunderts erlebt haben bzw. deren Auswirkungen, im Gegensatz zu der heutigen Generation?

H.T: Persönliche Kriegserfahrungen haben in der früheren Politikergeneration sicher eine Rolle gespielt. Dazu waren sie zu prägend. Ich habe das beispielsweise in vielen Gesprächen zwischen dem französischen Präsidenten Francois Mitterand und Bundeskanzler Helmut Kohl erlebt und sehr nachdrücklich bei den Begegnungen des Bundeskanzlers mit Präsident Michail Gorbatschow. Und Helmut Kohl und Hans Dietrich Genscher sind trotz des Höhepunktes des Kalten Krieges 1983, als der sowjetische Generalsekretär Jurij Andropow sogar mit dem dritten Weltkrieg gedroht hatte, nach Moskau gefahren und haben das Gespräch gesucht. Auch Bundeskanzler Willy Brandt hat im Frühjahr 1969 nur wenige Monate nach der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Truppen den sowjetischen Vorschlag einer europäischen Sicherheitskonferenz aufgegriffen und 1970 mit dem sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew den Moskauer Vertrag unterzeichnet. Selbst die NATO hat im November 1967 den sogenannten Harmel – Bericht beschlossen, in dem ausdrücklich gesagt wurde: ´Sicherheit und Entspannung sind die zwei Seiten der gleichen Medaille`. Heute scheint mir, dass vielen Politikern gerade in Deutschland der moralische Appell zu genügen scheint und man sich damit selbst bestätigt, wie integer man sei.

Hätten Sie es im November 1989 für möglich gehalten, dass der Westen und Russland 30Jahre später sich wieder  feindselig gegenüber stehen?

H.T: Offen gesagt: Nein. Mit der Unterzeichnung der „Pariser Charta für ein neues Europa“ von allen 34 Staats- und Regierungschef der KSZE – Mitgliedsstaaten im November 1990 war die Grundlage zu einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok gelegt worden. Alle Teilnehmer hatten sich auf die Prinzipien geeinigt, nachdem das ´Gemeinsame Haus`, wie Michail Gorbatschow es genannt hatte, entwickelt werden sollte. Erste organisatorische Vereinbarungen, wie man den Prozess am Leben halten könne, waren getroffen worden. Ein Konfliktverhütungszentrum wurde eingerichtet. Dieser Prozess wurde sträflich vernachlässigt, letztlich von allen Seiten. Damit haben wir eine große Chance vertan.

Halten Sie die Sicherheit Europas gewährleistet, in der jetzigen außenpolitischen Konstellation, oder stellt die NATO gar einen Stolperstein diesbezüglich dar?

H.T:Die Sicherheit in Europa ist aus meiner Sicht trotz aller Konflikte gewährleistet. Russland will und kann auch keinen Krieg gegen Europa führen. Das gilt auch für die westlichen Europäer. Gefahr droht nur durch Fahrlässigkeiten, wenn gegnerische Flugzeuge oder Kriegsschiffe unbeabsichtigt an den Grenzen kollidieren sollten. Deshalb wäre es so wichtig, wieder Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen aufzunehmen und zu vereinbaren.

Befindet sich der Westen im Niedergang, angesichts der globalen Umwälzungen, deren Zeuge wir sind?

H.T: Der Westen entscheidet selbst, welche Verantwortung und welche Rolle er im Prozess der sich entwickelnden neuen Weltordnung übernehmen will und kann. In einer multipolaren Weltordnung werden die Europäer nur gemeinsam ausreichend Gewicht einbringen, um mitgestalten und mitentscheiden zu können. Und die USA werden erfahren, dass sie mit einem europäischen Partner mit 500 Millionen Einwohnern und der vorhandenen Wirtschaftskraft global ein größeres Gewicht aufbringen können als heute allein.

Vielen Dank Prof. Dr. Teltschik

 

„Was heißt das für mich konkret!?“

Die oft geschürte Angst vor einem Krieg mit Russland, erst recht vor einer russischen Invasion in Europa können wir getrost ignorieren und uns nicht davon verrückt machen lassen. Zudem deutet immer mehr darauf hin, dass Europa zu einer größeren gemeinsamen Einheit wird, was uns als Europäern mehr Gewicht und damit auch selbständigen Gestaltungsspielraum für unsere eigenen Zukunft gibt.

Ganz konkret: Wer Kinder hat, die sich mit dem Gedanken tragen zur Bundeswehr zu gehen, muss mit Ihnen klarmachen, dass das in zunehmendem Maße bedeutet die wirtschaftlichen und strategischen Interessen des Westens gewaltsam in fernen Ländern durchzusetzen. Die Bewertung muss dann jeder für sich vornehmen.

 

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