Was einige Aktienkurse heute noch aussagen, und was nicht

Die Börse in Athen zeigt im weltweiten Vergleich prozentual gesehen sehr hohe Gewinne. Die regierungsnahe Presse in Griechenland titelt dazu, „Weltrekord bei den Gewinnen der Börse Athens“. Tatsächlich stieg der Aktienindex von Januar bis Oktober 2019 um sagenhafte 43,91 Prozent. Der Bankensektor gewann gar 101,59 Prozent Wert hinzu. 13,121 Milliarden Euro frisches Kapital kamen auf den griechischen Aktienmarkt.

Die Regierung Mitsotakis sieht sich durch die steigenden Kurse bestätigt. Schließlich begann der rasante Anstieg der Aktienwerte direkt nach den Europawahlen im Mai 2019. Die Nea Dimokratia war mit einem haushohen Sieg über die damalige Regierungspartei SYRIZA aus den Wahlen hervorgegangen. Der seit Anfang 2018 erkennbare Trend der leichten Erholung der Aktienkurse potenzierte sich durch die gewonnene Europawahl, weil diese die im Juli erfolgte Ablösung der zuletzt glücklosen Regierung Tsipras einläutete. Kyriakos Mitsotakis brachte zunächst frischen Wind in die griechische Politik.

Steigende Aktienkurse und eine bislang positive Reaktion der internationalen Presse, das wirft die Frage auf, ob Griechenland nun endlich gerettet ist. Sollten Aktienkäufe in Griechenland als Geheimtipp empfohlen werden?

Außenpolitische Realpolitik nach populistischen Wahlkampfreden

Zwei für die Anhängerschaft der Nea Dimokratia sehr wichtige Wahlversprechen musste Mitsotakis mittlerweile zumindest relativieren. Vor seiner Wahl zum Premier wetterte Mitsotakis wo immer er konnte gegen den Kompromiss im Namensstreit Griechenlands mit Nordmazedonien. Er kündigte an, den Nachbarn das Leben so schwer wie möglich zu machen, und nach Kräften einen Eintritt Nordmazedoniens in die Europäische Union zu behindern. Nachdem nun Frankreich die Beitrittsbemühungen Nordmazedoniens stoppte, und damit indirekt die Neuwahlen in Griechenlands Nachbarstaat ausgelöst hat, wirbt nun ausgerechnet Mitsotakis für den Eintritt Nordmazedoniens.

Als hätte er mit diesem Schritt den nationalistisch gesinnten Teil seiner Wähler genügend vor den Kopf gestoßen, musste Mitsotakis‘ Bürgerschutzminister Michalis Chrysochoidis eingestehen, dass die vollmundig angekündigte Schließung der Grenzen Griechenlands für Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten nicht möglich ist.

Die Regierung sieht sich gezwungen, den Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei zumindest in einem Punkt selbst zu unterlaufen. Sie befördert Asylbewerber auch vor Abschluss des Verfahrens von den Inseln, auf denen sie angekommen sind, aufs Festland. Dort gehen aufgebrachte Bürger auf die Barrikaden. Busse mit Flüchtlingen werden an der Einfahrt in die Ortschaften gehindert. Vor den Flüchtlingslagern finden fragwürdige Grillfeste der Flüchtlingsgegner statt. Diese möchten die von ihnen ungeliebten Fremden mit viel Wein und gegrilltem Schweinefleisch vergraulen.

Seitens der übrigen EU-Kollegen kann Mitsotakis nicht auf die von ihm erhoffte Umverteilung der Asylbewerber auf die anderen EU-Länder hoffen. Zudem wird die von ihm initiierte neue Asylgesetzgebung von EU, UNHCR und Flüchtlingshilfsorganisationen kritisiert. Schlimmer noch, aus der Türkei kommen Vorwürfe über illegale Push-Back Verfahren, bei denen potentielle Asylbewerber zuerst durch polizeiliche Beschlagnahme ihrer Habe beraubt, und hinterher in die Türkei zurück geschickt werden. Ein diesbezüglicher, in der vergangenen Woche bei Spiegel Online veröffentlichter Bericht, entspricht zahlreichen, seit langem in der griechischen Presse kursierenden Berichten.

Law & Order – Maßnahmen belasten den sozialen Frieden

Anders als in der Flüchtlingsfrage und bei der Außenpolitik ist die von Mitsotakis angekündigte „Law & Order“ Politik im gesamten Land spürbar. Sehr oft aber, übertreibt die Polizei in ihrem Eifer und Gewalteinsatz. Dies ist nicht nur bei den für Krawalle notorischen Demonstrationen im Land der Fall.

In einem Park in Athen wurde eine Gruppe von Yoga-Jüngern festgenommen, als sie friedlich im Stadtpark meditierten. Die Polizei nahm im Oktober Schüler fest, die in Athener Kinos den Film Joker sahen. Die minderjährigen Schüler, welche den erst ab 18 freigegeben Film sehen wollten, wurden nicht etwa nur des Kinos verwiesen, sie mussten mehrere Stunden in den Haftzellen der Polizeistationen verbringen. Das dabei angewandte Gesetz stammt aus der Zeit der faschistischen Diktatur der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Bei Razzien in Tanzlokalen lässt die von der Nea Dimokratia entfesselte Polizei gern 300 Gäste stundenlang auf den Knien ausharren. Dies geschah am vergangenen Wochenende im Athener Stadtteil Gazi. Die Polizisten in Zivil hatten sich bei ihrer Razzia nicht einmal ausgewiesen. Zunächst dachten die Gäste daher an einen Überfall. Gefunden wurden bei der groß angelegten Aktion nur sehr geringe Mengen Rauschgift.

Mitsotakis Justizminister versuchte zudem, das Fluchen mit religiösem Bezug, die bösartige Kritik an der Kirche und alles andere, was religiöse Gefühle einer der in Griechenland anerkannten Religionen unter Strafe zu stellen. Mit dem so genannten „Gotteslästerungsparagraphen“ waren in der Vergangenheit auch Theaterautoren, bildende Künstler, Karikaturisten und Kinoproduzenten ins Visier der griechischen Justiz gelangt. Gegen den Gesetzesvorstoß gab es auch Kritik aus dem liberalen Lager der Nea Dimokratia.

Die Kapriolen der Außenpolitik und die überzogene Ordnungspolitik belasten den sozialen Frieden im Land. Für die wirtschaftliche Entwicklung sind solche Zustände in der Regel wenig förderlich.

In der Tasche der Bürger herrscht weiterhin Leere

Steigende Aktienkurse werden von der Regierung als Beleg für den versprochenen Wirtschaftsaufschwung propagiert. Leider spüren die Bürger davon kaum etwas. 28,66 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten in Teilzeitjobs, welche mit durchschnittlich 404,5 Euro vergütet werden.

Insgesamt stehen im 11 Millionen Einwohner Staat 2.352.294 Menschen in einem Beschäftigungsverhältnis. 89,47 Prozent der von Arbeitgebern versicherten Angestellten sind Griechen. Hinsichtlich der Branchen sind 21,97 Prozent als Büroangestellte tätig. 20,76 Prozent sind im Einzel- und Großhandel tätig. 16,05 Prozent stehen in der Gastronomie und im Tourismus in einem Beschäftigungsverhältnis. Nur 12,43 Prozent arbeiten in Industriebetrieben.

Trotz der immer noch schlechten Arbeitsmarkt- und Einkommenssituation kommen auf die Arbeitnehmer neue Abgaben zu. Dies betrifft vor allem die geringfügig Beschäftigten und Menschen, die nur zeitweise einen Arbeitsplatz finden. Bislang wurden diese ebenso wie die übrigen Arbeitnehmer besteuert. Künftig soll sich das ändern.

Dann gelten sie, trotz der abhängigen Arbeitsverhältnisse als Freiberufler. Dies wiederum wirkt sich auf den Steuerfreibetrag und die Steuervorauszahlung, sowie auf die Besteuerung von Schätzeinkommen aus.

Konkret bedeutet dies, dass Menschen, die weniger als 6000 Euro pro Jahr verdienen, und ein zum Beispiel durch Besitz eines Fahrzeugs und einer Wohnung bedingtes Schätzeinkommen von weniger als 9500 Euro haben, ebenso wie die Arbeitnehmer einen Steuerfreibetrag von 8636 Euro hatten, somit im Extremfall nur geringe Steuern zu zahlen hatten. Die Behandlung als Freiberufler bedingt jedoch einen fehlenden Steuerfreibetrag, sowie die Pflicht zur Vorauszahlung von 100 Prozent der Steuer für das kommende Jahr.

Angenommen ein Bürger erhält in einem Jahr 1000 Euro für eine geförderte berufliche Fortbildungsmaßnahme oder für ein betriebliches Praktikum. Und angenommen diese Person besitzt Wohnraum, der mit einem jährlichen Schätzeinkommen von 2500 Euro belegt ist. Dann wird das staatlich bestimmte Mindestschätzeinkommen von 3000 Euro mit den 2500 Euro addiert.

Die so errechneten, fiktiven 5500 Euro Einkommen blieben bisher wegen des Steuerfreibetrags unversteuert. Ohne diesen, als Freiberufler, sind 9 Prozent Steuer, ergo 495 Euro fällig. Dazu muss der Steuerzahler den gleichen Betrag für das kommende Jahr vorausbezahlen. Der Praktikant des Beispiels müsste also von 1000 Euro Jahreseinkommen insgesamt 990 Euro an den Staat abliefern.

Im Gegenzug gibt es geringfügige Steuererleichterungen hinsichtlich des Freibetrags für Familien mit Kindern. Einkäufe von mehr als 300 Euro müssen per Kreditkarte oder Überweisung bezahlt werden, was überschuldete Haushalte wegen der bestehenden Kontopfändungen vor fast unlösbare Probleme stellt. Zusätzlich dazu, kann ein Steuerfreibetrag in Griechenland nur geltend gemacht werden, wenn ein Großteil der Supermarkteinkäufe mit Karte und nicht mit Barzahlung erfolgt.

Die über Banken abgewickelten Geschäfte sollen, so die Intention des Gesetzgebers, die steuerliche Erfassung absichern. In der Praxis werden bei Überprüfungen immer wieder Geschäfte erwischt, welche zwar über die Bankkonten der Kunden ihr Geld erhalten, die Transaktion jedoch mit technischen Mitteln geschickt vor dem Finanzamt verbergen. Dagegen greifen die Banken bei den Gebühren für Transaktionen immer mehr zu. Sie erhöhen regelmäßig die Kosten für ihre Kunden.

Reiche Griechen und Steuern? Das war einmal…

Anders als die einfachen Bürger werden reichere Personen und Unternehmer mit erheblichen Rabatten geködert, ihr Geld in Griechenland zu deklarieren. Fremden Inverstoren wird eine Flat-Tax zugesichert, wenn sie mehr als 500.000 Euro investieren. Mit der „Goldenen Visa“-Regelung wollten auch Vorgängerregierungen Geld aus dem Ausland nach Griechenland holen. Wer eine oder mehrere Immobilien im Wert von mindestens 250.000 Euro erwirbt, erhält einen für die gesamte EU gültigen Aufenthaltsstatus. Gleiches gilt für die Einfuhr von mehr als 400.000 Euro, die in Anleihen und Aktien investiert werden, oder auf ein Bankkonto in Griechenland transferiert werden.

Neu ist, dass Personen, die, unabhängig von ihrer nationalen Herkunft, ihren steuerlichen Wohnsitz nach Griechenland verlegen, eine zugesicherte Flat-Tax von 100.000 Euro bekommen können, wenn sie länger als 183 Tage im Land bleiben. Für jedes weitere Familienmitglied sind, vertraglich zugesichert für eine Dauer von 15 Jahren, dann nur 20.000 Euro pro Kopf erforderlich.

Investiert der vorher im Ausland Steuern residierende Interessent gar mehr als 1,5 Millionen Euro, dann beträgt seine maximal zu zahlende Steuer 50.000 Euro pro Jahr. Ab einer Investitionssumme von drei Millionen Euro reduziert sich die maximale Steuer auf 25.000 Euro pro Jahr, respektive 5.000 Euro für jedes weitere Familienmitglied. Auf diese Weise möchte Mitsotakis offenbar auch die in der Krise ins Ausland abgewanderten reichen Griechen zurücklocken.

Mit einem dem griechischen Programm analogen „Goldene-Visa“-Gesetz haben es auf Zypern auch international per Haftbefehl gesuchte Personen, wie der Malaysier Jho Low, geschafft, ein Asyl, oder gar eine schützende Staatsbürgerschaft des Landes zu erhalten.

Nea Dimokratia vs Financial Times

Weil derartige Praktiken dem Ausland nicht verborgen bleiben, nutzte die Financial Times die jüngste Revision des griechischen Strafrechtskodex für einen Frontalangriff auf die griechische Regierung. In dem durchaus lesenswerten Beitrag wirft das Finanzmagazin der griechischen Regierung vor, sie würde Geldwäsche erleichtern und diesbezügliche Straftäter mit einer verkürzten Verjährung auf 18 Monate elegant vor der Verfolgung schützen.

Weil in dem neuen Kodex auch die Möglichkeit eingebaut ist, bereits erwischten Verdächtigen die beschlagnahmten Gelder zurückzuerstatten, wittert die Financial Times ein Wahlgeschenk Mitsotakis für notorisch steuerfaule reiche Griechen. Die Regierung wehrt sich heftig gegen die Vorwürfe. Sie verweist, vertreten durch den Regierungssprecher, darauf, dass die Rückerstattung nicht automatisch erfolgen würde, sondern dass für eine Übergangszeit von drei Monaten die Richter entscheiden könnten, wen sie weiter verfolgen würden. Wer jedoch die durchschnittliche Dauer von Prozessen und Amtsvorgängen an den regelmäßig überlasteten griechischen Gerichten kennt, kann über solch eine Aussage nur den Kopf schütteln.

Anhänger der Partei streuen daher in sozialen Netzwerken das Gerücht, dass SYRIZA sich den Beitrag der Financial Times gekauft habe. Die frühere Regierungssprecherin der Regierung von Antonis Samaras, die Nea Dimokratia Abgeordnete und Journalistin Sofia Voultepsi geht sogar so weit, die Verschwörungstheorie in einem Beitrag für das regierungsaffine Magazin Liberal auszuweiten.

Voultepsi meint, dass die Financial Times nicht nur jetzt bösartig gegen die Nea Dimokratia wettern würde, sondern auch während der Regierungszeit von Alexis Tsipras Propaganda für den linken Premier gemacht habe. Ob sich die Redakteure der Financial Times darüber bewusst sind, dass sie von einem Teil der Griechen als Parteizeitung der Linken angesehen werden?

Die Aussichten des IWF

Tatsächlich scheint aber auch der jüngste Bericht des Internationalen Währungsfonds zu den Entwicklungen des griechischen Sparprogramms eher die Skeptiker als die Befürworter der Regierung Mitsotakis zu bestätigen.

Der IWF warnt, dass in den kommenden Jahren die Ziele des Primärüberschusses verfehlt werden könnten. Er mahnt eine Erweiterung der steuerlichen Basis, somit eine Senkung des Steuerfreibetrags und der Renten an.

Für den Arbeitsmarkt stellt der IWF in seinem Bericht fest, dass die strukturelle Arbeitslosigkeit trotz des Rückgangs der Arbeitslosigkeit immer noch sehr hoch ist. Es warnt das Finanzsystem davor, dass die schwachen Bilanzen der Banken die Wachstumsaussichten behindern und ein erhebliches Risiko für die Haushalts- und Finanzstabilität darstellen. Die Banken reduzieren weiterhin die Nettokreditvergabe an die Wirtschaft, stellt der IWF fest.

Der IWF begrüßt die Maßnahmen zur Reduzierung fauler Kredite und stellt fest, dass das „Hercules-Projekt“, mit dem die Regierung die Last der faulen Kredite mindern willen, die Banken durchaus unterstützen könnte. Es wird jedoch auch empfohlen, eine "umfassendere, ehrgeizigere und koordiniertere Strategie" zur Konsolidierung der Bankbilanzen auf der Grundlage von Marktmechanismen zu verabschieden.

„Was heisst das konkret für mich?!“

Die griechischen Aktienmärkte sind in diesem Jahr bereits weit gelaufen. Soziale und politische Unsicherheiten bleiben bestehen und die steigenden Aktienkurse spiegeln sich zumindest aktuell noch nicht in der Realwirtschaft wieder. Dies erhöht die Gefahr von größeren Rücksetzern. Es muss jeder für sich selbst entscheiden, ob eine Investition in den griechischen Aktienmarkt unter diesen Umständen eher hoch spekulativ denn sicher ist.

Beitrag senden

Drucken mit Kommentaren?



href="javascript:print();"