Die Geschichte lehrt uns, dass der Nationalismus in Krisenzeiten an Einfluss gewinnt. Sicherlich-Geschichte wiederholt sich nicht, trotz zahlreicher Kontinuitäten mit der Vergangenheit.

Nach 1990 fegte eine demokratische Revolution um den Erdball, welche schon von dem hellsichtigen französischen Chronisten Alexis de Tocqueville im frühen 19. Jahrhundert prognostiziert wurde, nach seiner Recherchereise durch die jungen USA. Tocqueville war als Aristokrat kein glühender Anhänger der Demokratie, schon gar nicht jener Form, die in Nordamerika am Entstehen war. Das Gegenteil war der Fall. Er erkannte früh die Folgen dieses Prozesses, neben Vermassung und Nivellierung auch den Einfluss des Geldes, bei der demokratischen Willensbildung, unabhängig von den theoretischen Idealen. Die Kultur des Individualismus fand, flankiert von der Verbreitung demokratischer Staatsformen, in den vergangenen 30 Jahren eine globale Verbreitung, wie sie Toqueville natürlich nicht vorhersehen konnte, ebenso wenig wie Adam Smith, der zuerst über eine „kommerzielle Gesellschaft“ selbstsüchtiger Individuen reflektierte.

Von einer Erschütterung zur Nächsten

Nach 1990, mit der Öffnung der Berliner Mauer und dem Untergang der UdSSR, wurde eine Tendenz immer stärker, in der Forderung nach unbegrenzter individueller Freiheit und Bedürfnisbefriedigung.

Die politischen Erschütterungen und wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre, angefangen mit dem 11. September 2001, dem „War on Terror“ sowie der Wirtschaftskrise von 2007/2008 verdeutlichen, dass die Visionen von ewigem Wirtschaftswachstum, von den unbegrenzten Chancen der Globalisierung, gescheitert sind.

Das erstaunliche hieran ist, dass der nach dem Ende des Kalten Krieges eingeleitete Prozess ohne Warnung verlief, ja dass die Thesen vom “Ende der Geschichte“ auf fruchtbaren Boden gefallen waren, als ob die Geschichte bisher immer nur progressiv verlaufen wäre.

Inzwischen wurden wir eines Besseren belehrt. Gesellschaften aber, deren Credo auf dem Zusammenlaufen und dem Austarieren gemeinsamer individueller Interessen besteht, auf globaler Basis, sind im Falle einer existenziellen Krise der Gefahr ausgesetzt, einen gewaltigen Zuwachs an gegenseitigem Hass zu produzieren und ein universelles Sich gegenseitig auf die Nerven gehen, wie es Hannah Arendt schon vor Jahrzehnten befürchtete.

Momentan leben wir Bürger in den EU-Staaten in einer Ausgangslage, die vor einiger Zeit noch als düstere Zukunftsvision verspottet worden wäre. Die Grenzen sind geschlossen, die Grundrechte durch Verordnungen zur Bewältigung der Corona-Krise eingeschränkt. Wir Bürger fungieren inzwischen als Befehlsempfänger, nicht einer demokratischen Institution, einer Regierung oder eines Parlamentes, sondern eines Krisen-Regimes, weniger aufgrund von politischen Entscheidungsprozessen, sondern auf Erkenntnissen basierend, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die sich fortlaufend ändern, deren Ausgang, ja dessen unmittelbare Folgen, ungewiss sind.

Die EU hat versagt.

Dieses vollzieht sich auf nationalstaatlicher Ebene, teils darunter, wird aber keineswegs von der EU mitgestaltet oder organisiert. Die Reaktionen der EU auf die Pandemie waren bisher auf deprimierende Art und Weise, zu langsam, zu zögerlich, vor allem nicht hilfreich. Kurz: die EU hat versagt. Die Frage, die hier von beklemmender Aktualität erscheint, ist die Frage, ob die EU dazu noch zukünftig in der Lage sein wird, bzw. ob sie überhaupt zu etwas in der Lage sein wird? Wenn überhaupt, empfiehlt sich hier ein Neustart, aber kein Abriss. Denn wenn man etwas beseitigen möchte, benötigt man eine Alternative, eine bessere Alternative, die ist aber nicht in Sicht. 

Was bedeutet das konkret für mich!?“

Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, geht inzwischen davon aus, dass die ökonomischen Verwerfungen nach der Corona-Krise schlimmer sein werden als die in Folge der Finanzkrise von 2008. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Folgen aus der Krise von 2008 entstanden sind, wenn man der These folgt, dass ohne diese Krise Ende der 00er Jahre es zu keinem Brexit gekommen wäre, zu keinem Aufstieg alternativer und bisweilen rückwärtsgerichteter Parteien, vor allem in Mittel-Ost-Europa, dann wird bewusst, welchen Herausforderungen man in Brüssel und in den EU-Mitgliedsstaaten entgegenschreitet.  Die EU hatte ihre Chance, gerade in dieser Krise, als Gemeinschaft gemeinschaftliche Strategien zu entwickeln, sie hat diese Chance aber nicht genutzt, unabhängig davon was die Ursachen sein mögen. Das Problem hierbei, es gibt keinerlei Beweise dafür, dass ein Leben ohne EU in dieser Form, bei all ihren zahlreichen Schwächen, eine Besserung verspricht, wie vielleicht einige Europäer frohlocken. Die Geschichte liefert zumindest dafür keine Beweise, oder gar eine Inspiration, dass entfesselter Nationalismus oder gar Tribalismus eine verheißungsvolle Zukunft beinhaltet, schon gar nicht für unseren Kontinent, aufgrund der geographischen und demographischen Realitäten, die unser Schicksal bleiben und sind. Diese Realitäten müssen aber immer den Handlungsrahmen darstellen, bei geopolitischen Fragen der Zukunft

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