„Paris en colère - Paris im Zorn“, lautete der Titel eines Chansons aus einem drittklassigen Film mit dem Titel „Brennt Paris?“, welcher 1966 in Frankreich in die Kinos kam.

Es war aber erst zwei Jahre später, als der Titel dieses Filmes eine beklemmende Aktualität erfahren sollte, nämlich als Paris von der Revolte der überwiegend jungen und akademischen Generation erfasst wurde, welche die Herrschaft des greisen, aber legendären Generals de Gaulle -eines Staatsmannes, nach dessen Format man heute in Europa vergeblich Ausschau hält- ins Wanken bringen sollte.

1968 und 2018

„Der Mai 1968 war ein faszinierendes Spektakel, weil die Geschichte wieder lebendig wurde“, sagte Peter Scholl-Latour einst dem Verfasser dieser Zeilen. Scholl-Latour hatte nur ein halbes Jahr vorher einen Film über die französische Jugend gedreht, mit dem Titel “Idole und wenig Ideale“. Quasi über Nacht wurde dieser Zustand über den Haufen geworfen. Statt der seichten Idole des Konsums, der Mode und der Musik, wurden nun revolutionäre Parolen skandiert - zahlreich und konfus - die Frankreich erzittern ließen.

Lassen sich die Demonstrationen, von denen Frankreich dieser Tage erschüttert wird, mit dem Mai 1968 vergleichen? Dazu muss man nüchtern feststellen - bei aller Dramatik vor 50 Jahren - um eine politische Revolution handelte es sich 1968 nicht, eher um eine Art Kulturrevolution.

Die Ursachen für die Studentenrevolte von 1968 sind in den sozialen Realitäten in Nanterre zu suchen. Dort, an der Peripherie von Paris, wo die Hochhäuser aus den schlammigen Böden wuchsen, zwischen Slums und Müllhalden, hatte die altehrwürdige Universität von Paris, die im Quartier Latin aus allen Nähten platzte, eine Dependence errichtet, wo die Studierenden -nicht selten die Söhne und Töchter der gehobenen Bourgeoisie- auf die Lebenswirklichkeiten des Unterproletariats stießen. Dort wurde die Revolte von ´68 geboren und dort, in den sozialen Verwerfungen der Banlieues, liegt auch die Ursache für die heutige Revolte gegen Präsident Macron.

Im Gegensatz zu 1968, als der damalige Protest vorwiegend auf ein präzises Planquadrat zwischen Saint-Germain-des-Prés und Mutualité, zwischen dem Place Saint-Michel und dem Observatorium konzentriert war, ist heute ganz Frankreich von der fieberhaften Revolte der „Gelben Westen“ erfasst. Die Demonstrationen wuchsen von der Provinz hinein in das Herz der Metropole Paris. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Sicherheitskräfte verunsichert - und die Geheimdienste alarmiert sind.

Krawalle in Paris

Als die gelbbekleideten Demonstranten am Sonnabend zwar nicht zum Sturm auf die Bastille ausholten, wohl aber zum Sturm auf Paris, da meldete sich "la France Profonde“ zurück, jenes ländliche Frankreich -gelegentlich verklärt- welches angesichts des Zentralismus im Hexagon, wo sich die gesamte Macht auf Paris konzentriert, meistens übersehen oder überhört wird. Präsident Macron wurde dadurch in der Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers im Élysée-Palast schmerzhaft bewusst - flankiert von dem Prunk und dem Pomp den das Amt des französischen Präsidenten mit sich bringt -, dass er von den Lebensrealitäten eines Großteils seiner Landsleute schlicht keine Ahnung hat.

Die Parole der Demonstranten lautete demzufolge: „Wir wollen auf den Place de la Concorde und zum Élysée-Palast - dorthin, wo die Macht sitzt“, worauf ihnen die nervöse Regierung das Marsfeld hinter dem Eiffelturm anbot, dabei den Place de la Concorde und die Champs-Élysées zum Sperrgebiet erklärte und die vier Pariser Zentren der Macht und ihre Umgebung (Élysée, Assemblée Nationale, Matignon und den Senat) in Festungen verwandelte, die es so nicht einmal 1968, noch 1940 gegeben hatte, als Hitlers Truppen einmarschierten.

Es spricht einiges dafür, dass sich unter die Gelbwesten inzwischen Krawallbrüder und Extremisten gemischt haben, wie zum Beispiel die Tatsache, wie schnell die Vorgaben der Sicherheitskräfte umgangen wurden und Barrikaden aus zertrümmerten Möbeln, Baustellenabgrenzungen sowie Tischen und Stühlen der Bistros auf der Prachtmeile von Paris errichtet wurden, zeigt. Weshalb die Protestler so relativ leicht auf die Champs-Élysées gelangten, bleibt zur Stunde fraglich.

Frankreichs neuer Innenminister, ein intimer Freund von Präsident Macron, steht deswegen schon im Kreuzfeuer der Kritik. Spitze Zungen stellen daher bereits die These auf, es könnte Absicht gewesen sein. Chaos auf der Prachtstraße, um die Bewegung zu diskreditieren, deren Protest bisher rund 70% der Franzosen zustimmen.

Wer sind die Gelbwesten?

Richtig ist allerdings auch, dass niemand wirklich beurteilen kann, wer diese Gelbwesten eigentlich sind, was sie fordern und wie man sie einzustufen hat. Von einer Bewegung, die aus dem Nichts zu kommen scheint, schwadronieren daher die Experten in ihrer völligen Ahnungslosigkeit.

Nach oberflächlicher soziologischer Überprüfung scheint es sich um einen Aufstand der Provinz gegen Paris zu handeln, also um jene Mehrheit der Franzosen, die kein Gehör mehr finden, deren Sorgen niemanden mehr zu interessieren scheinen.

„Macron tritt zurück“, „Macron hau ab“ – so lauten die Parolen, die seit einer Woche immer wieder erschallen. Gerufen von denen, die sagen, sie hätten nichts mehr zu verlieren, ihr Alltagsleben mit geringen Löhnen und schwindender Kaufkraft in den zurückgezogenen Landstrichen Frankreichs sei nicht mehr zu bewältigen und die Zukunft ihrer Kinder in Gefahr.

Ein unangenehmer Zug scheint allerdings darin zu bestehen, mit welcher Vehemenz einige Gelbwesten ihre Vorstellungen durchzusetzen gedenken. Meldungen über Zusammenstöße zwischen den gelben Warnwesten und den Bürgern, die einfach ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen und auf dem Weg zur Arbeit drangsaliert werden, erscheinen ungesund und irritierend. Und wenn dann an manchen Orten derjenige, der passieren will, auch noch gezwungen wird, eine gelbe Weste anzuziehen, um durchzukommen, bekommt das Ganze ein Geschmäckle von Dogmatismus und totalitären Methoden.

Gewaltlos verlief diese Erhebung bisher nicht: Zwei Tote und über 600 Verletzte wurden bisher vermeldet - darunter 17 Schwerverletzte. Eine erschütternde Bilanz.
Präsident Macron wäre angesichts der brodelnden Spannung zwischen Calais und Perpignan daher gut beraten, wenn er dieses Mal auf die Beschimpfung von Demonstranten verzichtet, wie er es in der Vergangenheit tat. Möchte er wirklich der Präsident aller Franzosen sein, oder nur der Präsident der Reichen, wie man ihm vorwirft?

Wenn er nun also der Präsident aller Franzosen sein möchte, dann sollte er zumindest den Bevölkerungsschichten zuhören, die das Gefühl haben, dass sie heute schlechter leben und schwieriger über die Runden kommen als noch vor 20 Jahren. Jene Menschen, die arbeiten, aber trotzdem arm bleiben, deren Landstriche veröden und von Abwanderung geprägt sind. Andernfalls sollte sich Macron an den berühmten Ausspruch seines Landsmannes und Philosophen Paul Valéry erinnern. „Et nous voyons maintenant que l'abîme de l'histoire est assez grand pour tout le monde" (Und wir sehen jetzt, dass der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle).

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