Weiter ging es in den nächsten Tagen über Irkutsk, Novosibirsk, Jekaterinburg, Kasan bis nach Moskau. Es war meine erste Begegnung mit Russland seit den frühen Neunzigerjahren, als der größte Flächenstaat der Welt sich aus der Erbmasse des Sowjetimperiums herausschälte, dessen Rechtsnachfolge übernahm und  sich heute wieder in einem Konflikt mit dem Westen befindet.

Damals, in jenem historischen Jahr, als das rote Imperium unterging, verbrachte ich als Abiturient einen unvergesslichen Sommer bei einer Gastfamilie im zentralrussischen Orjol, bevor wir nach Moskau und St. Petersburg weiter reisten.

In dem knappen Vierteljahrhundert das folgte, habe ich fast alle Republiken der untergegangenen UdSSR bereist, mit Ausnahmen der zentralasiatischen. Häufig stand ich dabei an den Grenzen Russlands, etwa im Südkaukasus, auf der alten Heerstraße in Georgien, wo Russland hinter den schneebedeckten und majestätischen Gipfeln lag. oder im estnischen Narva, mit Blick auf die Nachbarstadt Iwangorod, einige Jahre zuvor.

Während unser Zug durch Tundra und Taiga in Richtung Westen brauste, unterbrochen von teilweise mehrtätigen Aufenthalten an verschiedenen Destinationen, begriff ich schnell, was die Grundlage für die Popularität des Präsidenten war.

Im Gegensatz zum Sommer 1991, war jene große Armut verschwunden, die damals jedem Besucher ins Auge sprang. Die Kriminalität hatte ein erträgliches Niveau erlangt und eine Marktwirtschaft hatte Wurzeln geschlagen. Das Land wirkte gesünder, wohlhabender und robuster als jemals zuvor.

Rund 110 Millionen Russen sind am Wochenende zur Wahl eines neuen Präsidenten aufgerufen, eine Wahl, an deren Ausgang keine Zweifel bestehen. Von den Grenzen zu Finnland, bis zu den Gestaden des Pazifiks, vom Polarkreis bis zum Schwarzen Meer, wird im größten Flächenstaat der Welt gewählt.

Russlands Geographie, das ist das Territorium der USA plus Westeuropa, bei einer Einwohnerzahl die lediglich der Bevölkerung von Deutschland und Frankreich entspricht.

Winston Churchill, der Josef Stalin mit einer Mischung aus Bewunderung und Faszination begegnete, zumindest bis zum Ende des 2. Weltkrieges, beschrieb einmal die inneren Vorgänge der Machtzirkel in Moskau als ein Rätsel, welches sich mit Geheimnis und Mysterium umgibt „A riddle wrapped in a mystery inside an enigma“.

Über 100 Jahr zuvor formulierte Napoleon Bonaparte, dessen geopolitische Formulierungen noch heute gestochen scharf erscheinen: “La Russie, cet immense pays, sera toujours gouverné par son poids et par le hasard.“ – „Russland, dieses riesige Land, wird stets durch sein gewaltiges Eigengewicht und durch den Zufall regiert werden.“ Sicherlich, diese Aussagen entstammen schon untergegangenen Epochen, sie beinhalten aber angesichts des bevorstehenden Urnenganges eine Aussage von beklemmender Aktualität.

Gemäß Umfragen kommt Putin auf etwa 70 Prozent der Stimmen. Sieben zugelassene Konkurrenten treten an, die aber alle chancenlos, und auch nur zwei erwähnenswert sind.

Mit dabei ist der kommunistische „Erdbeermagnat“ Pawel Grudinin, von der kommunistischen Partei als „roter Kapitalist“ vermarktet. Dann der Ultranationalist Wladimir Schirinowski, der für die Liberaldemokratische Partei (LDPR) antritt und bekannt ist für seine Ausfälle, verbalen Entgleisungen und schrillen Auftritten.

Angesichts dieser Alternativen sollte man sich im Westen die Frage stellen, wer eigentlich an Putin´s Stelle treten soll? Diese Frage wurde neulich in Moskau von einer jungen Frau, die von einem französischen TV-Sender nach Ihren Wahlabsichten befragt wurde, wie folgt beantwortet: “Wer, wenn nicht er?

Der Westen -oder was noch davon übrig ist- befindet sich mit Russland in einem Kalten Krieg. Beide Seiten bedienen sich dabei der Mittel der Propaganda und Desinformation. Der westlichen Seite scheint dabei aber nicht nur das Gespür für historische Dimensionen und geopolitische Fragestellungen abhanden gegangen sein, sondern auch für Lehren aus der Geschichte.

Unabhängig davon, wie man die Politik und die Person des russischen Präsidenten interpretieren möchte, sollte man gerade im politischen Berlin wissen, welche Folgen eine deutsche Beteiligung bei der Frontstellung der NATO, bei dem Ostritt des transatlantischen Bündnisses, haben wird.

Bei meiner Reise im Sommer 2014, welche von dem bis heute ungeklärten Abschuss einer niederländischen Passagiermaschine über der Ukraine überschattet wurde, entdeckte ich eine russische Realität, welche sich dramatisch von dem in den Medien des Westens größtenteils gezeichneten Zerrbild unterschied.

In den Gesprächen mit den Menschen vom Baikalsee, über den Ural bis zum Roten Platz in Moskau, wurden durchaus kritische Meinungen zum Präsidenten geäußert, aber Unverständnis über den Kurs des Westens.

Eine Begegnung ist mir dabei im besonderen Gedächtnis geblieben. In Irkutsk verharrte ich eine Weile in der Betrachtung des Sonnenuntergangs. Dabei versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, wie weit ich von Europa entfernt war.

Der alte Herr, ich schätze ihn auf über 80, an dessen Stand ich zuvor eine Kugel Eis erworben hatte, hatte sich zu mir gesellt. Der Mann überraschte mich durch seine Deutschkenntnisse.

Unerwartet fragte er mich: „Wie weit möchte die NATO denn noch nach Osten vordringen und welche Feindschaft gegen Russland wird dabei ausgetragen? Ihr Deutschen habt in diesen endlosen Weiten doch ausreichend bittere Erfahrungen gesammelt. Wieviel Blut, Leid und Elend hat es bei Deutschen und Russen gegeben? Frau Merkel hat doch gesagt, eine Regierung, die auf einen Bürger schießt, hat ihre Legitimation verloren. Warum schweigt sie denn, wenn die ukrainische Armee auf ukrainische Bürger schießt? Ihr Deutschen solltet es doch besser wissen. Habt Ihr vergessen, dass Irkutsk, diese Uferpromenade, einst von deutschen Kriegsgefangenen errichtet wurde?

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