Es war noch früh am Morgen, als ich heute vor einem Jahr den Tatort am Breitscheidplatz im Herzen Berlins besuchte. An dem Schauplatz des schwersten islamistischen Anschlages in der Bundesrepublik Deutschland war noch das Grauen spürbar, welches sich dort

Damals fasste ich meine Eindrücke in folgenden Worten zusammen:

Die Weihnachtsbeleuchtung, die die Umgebung erhellte, zusammen mit dem Nebel, der durch die Straßen waberte, tauchte das Szenario in eine düstere Agonie. Ich hielt mich nicht lange auf, hatte auch nicht vor, die Arbeit der zuständigen Sicherheitsorgane zu behindern und kehrte bald hinter die weiträumigen Absperrungen zurück. Dort angekommen, erblickte ich zahlreiche Menschen, Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht, Nachtschwärmer und Neugierige, die still auf den Ort des Schreckens im Herzen des alten West-Berlins blickten. Als ich näher kam, erkannte ich ihre Gesichter, Schwaben und Surimanesen, Türken und Thüringer, Touristen und Transvestiten, Araber und Amerikaner, russische Juden und pakistanische Blumenverkäufer, Akademiker und Arbeitslose, ich erkannte die Gesichter Berlins. Ich ließ meinen Blick den Kurfürstendamm entlang gleiten. Nur wenige hundert Meter von hier entfernt liegt die mondäne Penthouse-Wohnung, in der Peter Scholl-Latour lebte, wenn er sich in Berlin und nicht irgendwo im Orient aufhielt. Am Ende seines Lebens hatte der Chronist oft davor gewarnt, was auf uns zukommen wird, aber wenig Gehör gefunden. Er zitierte dann gewöhnlich Paul Valery: "Am Abgrund der Geschichte ist Platz für jeden."

Politik versäumt lange eine Reaktion

Ein Jahr vor dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, im Dezember 2015, genehmigte der Bundesgerichtshof die Überwachung des Handys von Anis Amri, jenes jungen Mannes also, der das Attentat verübte. Alles was in diesem Jahr passierte, als die zuständigen Behörden, die Landeskriminalämter und die Landes- und Bundesämter für Verfassungsschutz, die Überwachung des späteren Täters vollzogen, ist schlicht und ergreifend als ein Behörden- beziehungsweise als ein Staatsversagen zu interpretieren. Unmittelbar nach der Bluttat bemühten sich Politiker um Schadensbegrenzung, während andere sich bestätigt fühlten. Auffällig ist bis heute, wie schnell man zur Tagesordnung überging, wie sehr das Ereignis an den Rand der kollektiven Erinnerungskultur gedrängt wurde. 12 Monate weigerten sich die politische Klasse und die zuständigen Behörden, ein angemessenes Gedenken für die Opfer des Anschlages zu ermöglichen. Erst jetzt konnte sich Kanzlerin Merkel dazu durchringen, eine bessere Unterstützung für die Angehörigen zuzusagen. Vor einem Treffen mit Hinterbliebenen sagte sie, gemäß dpa zufolge, wie sehr wir mit den Angehörigen, mit den Verletzten fühlen, "wie sehr wir auch Dinge verbessern wollen". Das Treffen sei ihr sehr wichtig, so die Bundeskanzlerin. Zuvor hatte es starke Kritik an Merkel und ihrem Umgang mit den Betroffenen des Anschlags gegeben. In einem offenen Brief hatten Hinterbliebene Merkel politisches Versagen vorgeworfen und kritisiert, dass sie nicht persönlich kondoliert habe. Ferner räumte die Kanzlerin Versäumnisse ein.

Wurzeln in Riad

Versäumt wurde auch, die Öffentlichkeit über die globalen Zusammenhänge zu informieren, die Anschläge der letzten Jahre betreffend. Zum Beispiel über die Tatsache, dass die geistige Inspiration für das Massaker von Berlin, wie auch für die Massaker an anderen Orten weltweit, in Saudi-Arabien zu suchen und zu finden sind, also in jenem Königreich, mit dem sich der Westen unter Führung von Trumps USA verbunden zu fühlen scheint, die man ohne Übertreibung als obszön betrachten darf. Noch kurz vor dem Blutbad in Berlin, war die Bundesverteidigungsministerin in Riad zu Gast und fädelte wie gewöhnlich Geschäfte für die Rüstungsindustrie ein.

„Krieg“ gegen den Terror

So genau soll es die breite Öffentlichkeit anscheinend dann doch nicht wissen. Eventuell könnte dann ja mal die Frage aufkommen, weshalb 16 Jahre nachdem Beginn des sogenannten "Krieg gegen den Terror", dieser Terror nicht mehr nur islamische Staaten heimsucht, sondern warum der Terror inzwischen zu einem globalen Phänomen mutiert ist?

Ursula von der Leyen scheint sich diese Frage auf ihre Art beantwortet zu haben. Die Ministerin weilt dieser Tage in Afghanistan und forderte von dort aus eine Aufstockung der deutschen Truppe, in dem angeblich sicheren Herkunftsland, welches britische Chronisten im 19. Jahrhundert ehrfurchtsvoll als "Friedhof der Imperien" titulierten. Angesichts dieser innen-und außenpolitischen Rahmenbedingungen, am ersten Jahrestag des Anschlags von Berlin, kommt einem das Zitat von Friedrich Nietzsche in dem Sinn. "Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: Ich, der Staat, bin das Volk."

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