Das allgemein bekannteste Phänomen der Börsenpsychologie ist das Herdenverhalten. Einige kaufen Aktien bestimmter Branchen, andere lassen sich von der Begeisterung bzw. Euphorie anstecken und investieren ebenfalls. Es werden immer mehr und es bildet sich eine Spekulationsblase – die schließlich platzt und für große Verluste bei vielen Aktionären sorgt. Das Prinzip leuchtet jedem ein; der Effekt erscheint den Meisten selbsterklärend und geradezu trivial. Dennoch gelingt es den wenigsten Anlegern einen Trend vor den anderen "Herdenmitgliedern" zu erkennen und in ihn zu investieren. Und es gelingt ihnen ebenso wenig, sich der Hochstimmung zu entziehen, wenn das Herdenverhalten die Kurse in irrationale Höhen treibt. Die Behavioral Finance hat das massenpsychologische Verhalten untersucht und hält vor dem Hintergrund der gemachten Erkenntnisse Handlungsempfehlungen bereit.

 

Wenn an den Börsen das Wort Herdenverhalten verwendet wird, hat es in der Regel einen negativen Beiklang. Die Menschen verbinden damit, dass die Nachzügler die entstandenen Kursanstiege an den Börsen mitbekommen, ebenfalls hohe Gewinne erzielen wollen sowie von der Gier getrieben und kaufwütig die Aktienpreise in aberwitzige Höhen treiben. In der Tat ist an dieser Sichtweise etwas dran. Es beschreibt allerdings nur einen Teil des Phänomens – nämlich den irrationalen. Durch einen Herdentrieb verursachte Kursbewegungen müssen nicht per se unvernünftig sein. Die Behavioral Finance differenziert zwischen dem rationalen und dem irrationalen Herdenverhalten. Unter rationalem Herdenverhalten wird ein gleichgerichtetes Verhalten verstanden, das ausschließlich auf objektiven Informationen beruht und rational begründbar ist; konformes Verhalten, das nicht auf objektiven Informationen beruht und rational betrachtet unbegründet ist, wird als irrationales Herdenverhalten bezeichnet. Rational begründbar bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich der Marktpreis in Richtung des „fairen Wertes“ bewegt. Wenn der erzielbare Marktpreis über dem errechneten fairen bzw. fundamental gerechtfertigten Kurs liegt, ist ein Verkauf rational, sofern er kleiner ist, ist ein Kauf rational. Die theoretische Betrachtung beschreibt den sozialpsychologischen Effekt zwar anschaulich, nur bietet er keine konkreten und direkten Handlungsempfehlungen. Das größte Problem dabei: Die Meinungen der unzähligen Marktakteure über den fairen Wert sind stets so unterschiedlich, dass er sich nicht zweifelsfrei bestimmen lässt. Erst rückblickend, wenn schon alles vorbei ist, kann man sich ein umfängliches Bild von der Lage machen.

 

Falls die Kurse exorbitant steigen oder fallen, wird häufig das Herdenverhalten seitens der Privatanleger als Erklärung herangezogen. Es wird als eine Art verstärkender Faktor betrachtet. Wenn die Kurse in der Euphorie steigen oder in panischen Marktphasen herunterstürzen, werden die so genannten Noise-Trader verantwortlich gemacht. Noise-Trader, denen zumeist private Anleger zugeschrieben werden, treffen ihre Entscheidungen nicht auf der Grundlage von Fundamentaldaten, haben ein schlechtes Timing, folgen Trends erst, wenn sie schon im vollen Gange sind und überreagieren auf gute oder schlechte Nachrichten. Verschiedene Datenanalysen von Unternehmen, die sich mit der psychologischen Stimmung am Markt beschäftigen und Untersuchungen bei Discount-Brokern legen die Vermutung nahe, dass es bei einem Herdenverhalten an den Märkten tatsächlich meist die Privatanleger sind, die für irrationale Kurssprünge verantwortlich sind. Ihr prozyklisches Handeln kann bei stark steigenden und fallenden Kursen den Turbogang darstellen, der mit den steigenden Volumina für einen „irrational exuberance“ (irrationalen Überschwang) sorgt, wie es der ehemalige FED-Vorsitzende Alan Greenspan formuliert hatte. Die Entscheidungen der Noise-Trader ihre Engagements einzugehen, sind dabei häufig durch die vorherrschende - und stark verzerrte - Marktmeinung in den Mainstream-Medien beeinflusst.

 

Zahlreiche Beispiele aus der Börsengeschichte zeigen, zu welchem Irrsinn ein fieberhaftes Herdenverhalten an den Märkten führen kann. Während der Tulpenhausse in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts tauschte ein Brauereibesitzer seine Brauerei gegen drei seltene Tulpenzwiebeln. Das Brauhaus war damals 30.000 Niederländische Gulden wert, wofür er zu jener Zeit drei Amsterdamer Grachtenhäuser hätte kaufen können. Es sollten noch weitere Spekulationsblasen, die durch einen allgemeinen Kaufrausch angefacht wurden, folgen. Wie etwa die Südssee-Spekulation (1720) oder der Eisenbahn-Boom (1840). Während der Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende stieg der Nemax 50 in zwei Jahren um das Zehnfache. Die über 200 Aktien im Nemax All Share erreichten eine Marktkapitalisierung von insgesamt 235 Milliarden Euro, obwohl die meisten keine Gewinne machten. Stattdessen landeten sie nach dem Platzen der Blase auf der „Todesliste“ und verschwanden genauso schnell wieder von der Bildfläche wie sie zu Stars hochgejubelt wurden. Innerhalb einiger Monate hatten sich ca. 85 Prozent des gesamten Börsenwertes in Luft aufgelöst.

 

Der Anleger, der ein solch irrationales Herdenverhalten erkennt, kann sich rational verhalten und sich mit seinen Engagements bewusst zurückhalten, während die anderen den heiß begehrten Aktien nachjagen. Nicht zu investieren ist natürlich ein guter Schutz, um nicht in die Euphorie-Falle zu tappen. Aber im Rahmen von angestrebten Renditezielen betrachtet, erscheint dies in einem handelsstrategischen Sinne jedoch nicht als beste Option. So kann der Anleger, der die Entwicklungen in einer bestimmten Branche dermaßen einschätzt, dass die jeweiligen Aktienkurse aufgrund eines sich anbahnenden Herdenverhaltens stark ansteigen werden, mit kurz- bis mittelfristigen Strategien davon profitieren. Wenn er richtig liegt und die Kurse tatsächlich ansteigen, bietet sich die als Trailing-Stop bezeichnete Orderstrategie an. Wenn eine Aktie beispielsweise zu 100 Euro gekauft und der Stop-Loss mit 10 Prozent bei 90 Euro festgelegt wurde, um die Verluste im Fall eines Kursrückgangs zu begrenzen, kann diese Stop-Marke im Abstand von 10 Euro zum Marktpreis nachgezogen werden. Wenn der Kurs beispielshalber auf 110 Euro steigt, kann die Stop-Order auf 100 Euro nachgezogen werden, wenn der Kurs auf 120 Euro steigt, wird der Stop-Kurs bei 110 Euro festgesetzt usw. Der Stop-Kurs wird also bei jedem Anstieg des Kurses im Gewinnbereich um 10 Euro im gleichen Abstand angepasst.

 

Im konkreten Einzelfall ist ein gleich bleibender Abstand des Trailing-Stops zu einem definierten Marktpreis nicht zwingend, sondern situativ variierbar. Zudem kann beim Greifen eines Trailing-Stops, im Rahmen der so genannten „Taktischen Liquidität“, nur ein Teilverkauf stattfinden. Wie die jeweiligen Stops gesetzt und welcher Anteil der Position abgestoßen wird, ist wie immer im individuellen Kontext zu entscheiden. Diese Punkte, die auch ihren Platz in generellen Börsenstrategien haben, zeigen ihre Effektivität besonders in einem dynamischen bzw. vom Herdenverhalten geprägten Markt.

 

Durch Herdenverhalten verursachte exorbitante Kursanstiege bzw. Überreaktionen an den Märkten gehen mit auffällig hohen Bewertungen bei ökonomischen Fundamentaldaten einher. Weitere Indizien aus der Technischen Analyse bieten Indikatoren, die auf überkaufte Märkte hindeuten und hohe Handelsvolumina aufweisen. Wenn das kollektive Börsenfieber die Anleger ansteckt, sind die meisten in ihrer Kauflaune jedoch gegen derartig vernünftige Argumente resistent.

 

Der Neigung des Menschen sich der Herde anschließen zu wollen, ist sehr stark. Es liegt in seiner Veranlagung, das Verhalten der Anderen zu imitieren, auch wenn auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Informationen alternative Handlungsmöglichkeiten auf dem Tisch liegen. Verhaltenswissenschaftlich genau betrachtet, müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein, damit von einem Herdenverhalten gesprochen werden kann. Dazu gehört, dass ein kommunikativer Austausch stattfindet und dass man sich mit den Anderen vergleicht. Dass die anderen auch alle Geld verloren haben, tröstet über den eigenen Verlust hinweg und vermindert den psychologischen Druck sehr. Zudem zeigen Untersuchungen aus der Neurologie, dass sich der Schmerz der sozialen Ausgrenzung in den gleichen Hirnarealen manifestiert wie physischer Schmerz. Dies verdeutlicht sehr anschaulich, wie stark irrationale Verhaltensanomalien den Anleger den Anleger im Griff haben. Um den innerlich stark wirkenden psychologischen Kräften entgegenwirken zu können, ist die disziplinierte Umsetzung von klar definierten Handelsstrategien erforderlich.

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