Welcher Teufel Recep Tayyip Erdogan geritten haben mag, seit den Ereignissen vom Sommer vergangenen Jahres, die Türkei radikal und mit Gewalt nach seinen Visionen zu formen - mit nahezu unheimlicher Hast - wird sich vielleicht späteren Generationen offenbaren, wenn die Nebel der Desinformation und der Schnelllebigkeit, welche die mediale Berichterstattung unseres Zeitalters prägen,  sich gelichtet haben.

Der türkische Präsident ist mit Sicherheit eher ein Stratege, als ein Fanatiker, auch wenn aktuelle Entwicklungen das Gegenteil zu suggerieren scheinen...

Sein überwältigender Wahlsieg im Juli 2007 stellte ja nur den vorläufigen Höhepunkt einer langen Entwicklung dar.

Während im Iran die Moscheen leer stehen, ja sogar eine Entfremdung von religiösen Dogmen stattfindet, gerade unter der urbanen Jugend, sprießen im NATO-Land Türkei die Moscheen wie Pilze aus dem Boden.
Wahrscheinlich wäre es sogar heilsam, wenn in der kraftstrotzenden Türkei der Versuch in Gang käme, ein von der Bevölkerung getragenes islamisches System zu installieren, nachdem man in der übrigen “Islamischen Welt”, vergeblich Ausschau hält.

Irgendwie muss das Verhältnis Europas gegenüber seinen islamischen Nachbarn ja auf eine neue, realistischere Grundlage gestellt werden. Die Respektierung des demokratischen Willens der dortigen Mehrheit, auch wenn diese temporär eine religiöse Staatsform präferiert, sollte auf Dauer Vorrang gewinnen über die Kungelei und Kumpanei mit oberflächlich befreundeten Diktatoren und fundamentalistischen Feudalherrschern, deren Anbiederei an den Westen nur der eigenen Selbsterhaltung dient und die früher oder später einstürzen werden.

Wenn Innen- zur Außenpolitik wird...

Es konnte ja gar nicht ausbleiben, dass ein Politiker vom Schlage Erdogans, in eine offene Konfrontation mit der allmächtigen Generalität der türkischen Armee und ihrer auf kemalistischen Laizismus eingeschworenen Staatsdoktrin gerät.

Das hohe Offizierskorps, das bisher im Nationalen Sicherheitsrat die Entscheidungen fällte, betrachtet sich als Bastion des nationalrepublikanischen Erbes, des höchsten Vermächtnisses, das Atatürk hinterließ.
Sukzessive hatte es Erdogan unternommen, diese militärische Macht zu mindern und mit parlamentarischen Mitteln zu unterlaufen.

Die europäischen Freunde des Türkei-Beitritts zur EU, welche darauf hinarbeiten, den Einfluss der Armee abzubauen, weil diese den demokratischen Vorstellungen des Westens widerspricht, unterstützen Erdogan dabei fleißig.

Mit der Entmachtung der Generäle wurde jedoch die letzte Hürde beseitigt, die sich einer allmächtigen Umwandlung dieses laizistischen Staates in eine Islamische Republik entgegenstellte.

In dem seit 2011 tobenden Bürgerkrieg in Syrien, der von Anfang an von einer internationalen Dimension geprägt war, stellte sich Ankara gegen Anfangs gegen das Regime von Assad, flankiert von uralten Kalifatsträumen.

Dieses außenpolitische Abenteuer ging gründlich schief und zwang Ankara zu einer rasanten und riskanten Kurskorrektur.

Bei dem aktuellen außenpolitischen Abenteuer Ankaras, dieses Mal gegenüber der EU im Allgemeinen und den Niederlanden im Speziellen, geht es ebenfalls recht holperig zu.

Erdogan hat den Niederlanden am Sonntag mit Konsequenzen für die Ausweisung der türkischen Familienministerin gedroht. «Wir werden ihnen eine Lektion in internationaler Diplomatie erteilen», polterte Erdogan an einem Auftritt in Istanbul.

Zwei wichtige Urnengänge

Es wäre sogar wünschenswert, wenn die Diplomatie wieder die Oberhand gewinnen würde, auf allen Seiten, statt diese zur Zeit en vogue erscheinende Pöbelei, mit dem Ziel innenpolitische Spannungen auf der internationalen Ebene zu entladen. Die aktuelle Konfrontation hat mit Diplomatie aber nicht das Geringste zu tun.

Doch Präsident Erdogan ist kein durchgeknallter Demagoge, der jedes Gespür für diplomatische Gepflogenheit verloren hat. Der Krach mit Europa ist einkalkuliert. Er will den Krach mit den Europäern, weil er darauf setzt, dass dieser ihm Stimmen bringt.

Am 16. April stimmen die türkischen Stimmbürger und Stimmbürgerinnen über die Einführung eines Präsidialsystems ab. Gewinnt Erdogan das Referendum, hätte er sein Lebensziel erreicht: Er wäre auch rechtlich der weitgehend unumschränkte Herrscher der Türkei. Doch noch sind viele Wähler unentschlossen, Prognosen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Die Auslandtürken sind eine der Gruppen, die den Ausgang entscheiden können.

Bei den großen Diaspora-Gemeinden in Europa holte Erdogan bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015 die Mehrheit.  

Aber auch in den Niederlanden, wo am Mittwoch gewählt wird, profitieren Parteien und Politiker von der aktuellen Krise.

Etwa 75 Prozent der Wähler haben sich noch nicht entschieden, wem sie ihre Stimme geben werden.
In dem fragmentierten Parteiensystem, welche die Volksparteien als auch die alten ideologischen Trennungslinien obsolet erscheinen lassen, gibt es keine klaren Favoriten. Bis zu 14 Parteien könnten den Einzug ins Parlament von Den Haag schaffen. Für eine Regierungsmehrheit wird man eine Koalition aus vier oder gar fünf Parteien bilden müssen.

Die rechtsliberale VVD von Ministerpräsident Mark Rutte, liegt in den letzten Umfragen, welche vor den Krawallen in Rotterdam erhoben wurden, knapp vorne. Entweder wird Rutte aufgrund seines energischen Auftretens gestärkt oder der indifferente und unberechenbare Geert Wilder, von der als Partei bezeichneten und monothematischen One-Man-Show PVV profitiert.

Die Gefahr, dass die repräsentative Demokratie, die ihre Glanzzeit vielleicht schon hinter sich hat, zum bloßen Formalismus erstarren könnte, angesichts der Omnipräsenz der virtuellen Medien, die den Politikern mehr Schrecken einflößt, als die wankenden Stimmungsschwankungen ihrer Wähler.

Ob dem viel zitierten Volk dadurch eine historisch angenehmere Perspektive eröffnet wird, ist höchst ungewiss. Ein Blick in die Geschichtsbücher lässt diesbezüglich Zweifel aufkommen.

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