Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft hat im Januar seine neue Agenda für die europäisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen veröffentlicht. Hierbei geht es im Wesentlichen darum, gemeinsame Interessen zu definieren und gemeinsame Projekte umzusetzen.

Das verlorene Jahrzehnt

Nach der Auffassung des Ausschusses ist das letzte Jahrzehnt in den EU-Russland-Beziehungen, mit gegenseitig zunehmenden Bedrohungsvorstellungen, ein verlorenes Jahrzehnt. Das neue Positionspapier beschreibt, welche neuen Ansatzpunkte es für eine europäische Russlandpolitik gibt, die zu mehr Wachstum und besseren Beziehungen führt und damit im Interesse aller EU-Länder und Russlands ausfällt.

Kooperationsmöglichkeiten

Es erläutert 15 strategische Themenfelder mit zukunftsweisenden deutsch-russischen oder europäisch-russischen Kooperationsmöglichkeiten. Es geht dabei um große Querschnittsthemen wie die Steigerung der Arbeitsproduktivität, den Ausbau des Mittelstands, die Digitalisierung der Wirtschaft, die Umsetzung der Weltklimaziele, die Erforschung des Weltraums und der Arktis, die Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung oder die Entwicklung der Mobilität der Zukunft.

In allen genannten Feldern können moderne, innovative Unternehmen aus der EU und Russland gemeinsam an Lösungen arbeiten, mit denen beide Seiten ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit deutlich steigern können. Der Ostausschuss vertritt dabei die Auffassung, dass die engere Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland in Europa durch eine gemeinsame Gestaltung der Rahmenbedingungen, den Abbau gegenseitiger Handelshemmnisse und Visa-Auflagen, die Stärkung multilateraler Organisationen wie der WTO bis hin zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums in möglichst naher Zukunft deutlich erleichtert würde.

Sehr hilfreich wären dafür die Wiederbelebung der jährlichen EU-Russland-Gipfeltreffen und die Wiederaufnahme anderer ausgesetzter Dialogformate, wie zum Beispiel der deutsch-russischen Regierungskonsultationen.

Die bestehenden gravierenden politischen Differenzen und Konflikte, die zu gegenseitigen Sanktionen geführt haben, sollen nicht ausgeklammert oder verschwiegen werden. Zwar hätten einige europäische Firmen Russland verlassen, die überwiegende Mehrzahl ist dem Markt aber treu geblieben und glaubt an eine positive Zukunft.

Europäischer Wohlstandsraum

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier schlug anlässlich der Eröffnung des deutsch-russischen Petersburger Dialogs am 07. Oktober 2018 in Moskau die gemeinsame Arbeit an einem „europäischen Wohlstandsraum“ vor.

Die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok sei das Fernziel; als Nahziel könne man sich darauf konzentrieren, gemeinsam mehr Wachstum in Europa zu erzielen. Das vorliegende Positionspapier greift diese politische Debatte auf. Erarbeitet wurden die Vorschläge unter Federführung des Ost-Ausschuss – Osteuropavereins der Deutschen Wirtschaft (OAOEV) im Austausch mit Vertretern von Unternehmen, Ministerien, Wissenschaftlern und Experten für internationale Beziehungen.

Der OAOEV unterstützt die deutsche Wirtschaft in 29 Ländern zwischen Prag im Westen und Wladiwostok im Osten. Gegründet im Jahr 1952 als erste Regionalinitiative der deutschen Wirtschaft, kann der Verband auf eine lange Erfahrung im Austausch mit Russland, Polen, der Ukraine, Kasachstan und vielen weiteren Ländern der Region zurückblicken. Der OAOEV stützt sich auf sechs Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sowie 350 Mitgliedsunternehmen. Trotz aller Krisen und Konflikte hat sich die Wirtschaft bis in die heutige Zeit als stärkste Brücke zwischen Russland und der EU erwiesen.

Russland drittwichtigster Handelspartner

Trotz gegenseitiger Sanktionen ist Russland nach China und den USA weiterhin der drittwichtigste Handelspartner der EU. Rund 70 Prozent der ausländischen Investitionen in die russische Wirtschaft stammen aus der EU. Weiterhin sind rund 4.600 Unternehmen mit deutscher Beteiligung auf dem russischen Markt aktiv, die dort rund 270.000 Arbeitsplätze geschaffen haben.

Die täglichen Erfahrungen aus gemeinsamen Projekten mit russischen Partnern zeigen, dass eine Zusammenarbeit im Interesse aller Beteiligten nicht nur möglich, sondern höchst erfolgreich sein kann. Das im Dezember 2018 begonnene Deutsch-Russische Jahr der Hochschulkooperation und Wissenschaft (2018-2020) und die ebenfalls unterzeichnete, auf zehn Jahre angelegte Deutsch-Russische Roadmap für die Zusammenarbeit in Bildung, Wissenschaft, Forschung und Innovation bieten zusätzliche Anlässe, neue Wirtschaftskooperationen auf den Weg zu bringen.

Digitalisierung

Oben sind 15 strategische Themenfelder genannt. Für den heutigen Beitrag picke ich mir die Digitalisierung der Wirtschaft heraus. Laut dem Ostausschuss der deutschen Wirtschaft verändert die Digitalisierung die Wirtschaft ähnlich gravierend wie die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert.

Die Verfügbarkeit von gigantischen Rechenleistungen zu weiter stark sinkenden Preisen erlaubt die Erschließung und Nutzung riesiger Datenmengen. Robotics, Augmented Reality, Blockchain, 3-D-Druck, Drohnen und Internet of Things sind nur einige Beispiele für die Dynamik der Veränderungen. Europa droht auf wichtigen Feldern den Anschluss zu verlieren und ist von den USA und China bereits abgehängt worden.

Russisches Silicon Valley

Was viele bei uns nicht wissen: In Russland existieren mit Firmen wie Mail.ru, Yandex oder Kaspersky Lab eigene Software- und Internet-Riesen. Viele dieser innovativen IT-Firmen bilden z.B. in Skolkovo bei Moskau, Innopolis bei Kasan in Tatarstan und Akademgorodok bei Nowosibirsk russische Forschungscluster oder sind im russischen Netzwerk NTI organisiert, dem über 350 innovative Unternehmen angehören.

Das ist nichts geringeres, als ein der westlichen Öffentlichkeit bis dato unbekanntes russisches Silicon Valley. Russland ist mit rund 90 Millionen Nutzern der größte E-Commerce-Markt Europas. Nirgendwo auf unserem Kontinent gibt es mehr Internet-Nutzer und Programmierer.

Moskau wird die erste Großstadt sein, in der der neue Mobilfunk-Standard 5G flächendeckend verfügbar ist, welcher ein Zeitalter völlig neuer Anwendungsmöglichkeiten eröffnet. Während Deutschland bei digitalen Services im Alltag und bei E-Government deutlich hinterherhinkt und hier von Russland lernen kann, punktet die deutsche Wirtschaft beim Thema Industrie 4.0 und damit bei der Implementierung digitaler Anwendungen in den Produktionsalltag.

„Die Nutzung digitaler Anwendungen kann nach Schätzungen von Experten bereits innerhalb kurzer Zeit zu einer um fünf bis zehn Prozent effizienteren Produktion und langfristig sogar zu einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 30 Prozent führen, bei gleichzeitiger Einsparung von Energie, Abgasen und Ressourcen. Eine Zusammenarbeit in diesem Bereich hilft also beiden Seiten“, so das Positionspapier.

Der Ostausschuss berichtet auch von bereits praktizierter Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Unternehmen. Das Innovationszentrum Skolkovo bei Moskau ist der größte Technologiepark Europas.

Als Pilotprojekt für eine engere deutsch-russische Abstimmung zur Digitalisierung wurde 2017 die Deutsch-Russische Digitalisierungsinitiative GRID (Partner: OAOEV, AHK Moskau, RSPP, Siemens, SAP, VW, Bosch, Rostelecom und Skolkovo) gestartet. Die Initiative führt deutsche und russische Unternehmen beim Thema Digitalisierung und Zukunftstechnologien zusammen. Wichtiger Partner auf der russischen Seite ist hier zudem die Sberbank.

Ebenfalls bereits gestartet ist eine Initiative zur Harmonisierung der technischen Reglements. Der russische Unternehmerverband RSPP und der OAOEV arbeiten daran, die technischen Vorschriften beider Länder anzunähern. Dies soll auch in Kooperation mit der Eurasischen Wirtschaftskommission zu deutlich verbesserten Rahmenbedingungen für die Unternehmen beider Länder beitragen.

Gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte könnten Themen wie „advanced analytics“, „computer vision“, „robotics“, „autonomes Fahren“ und „Super-Computer“ umfassen. Zur Prüfung und möglichen Intensivierung der Zusammenarbeit unterstützt der Ausschuss die Idee der Gründung einer Unterarbeitsgruppe „Digitalisierung“ innerhalb der deutsch-russischen Strategischen Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Finanzen (SAG), die kurzfristig einen konkreten Fahrplan für Kooperationen in diesem Bereich erarbeiten sollte.

CEBIT Russia

Vom 19. bis 21. März 2019 findet in Skolkovo in Kooperation mit der Deutschen Messe die erste Computermesse CEBIT Russia statt, die sich an den Themen der CEBIT Hannover orientiert. Schwerpunkte sind: Internet of Things, Artificial Intelligence, Blockchain, Mobile Solutions, Future Mobility, Startups, Sicherheitslösungen und Drohnen.

Auch am Karlsruhe Institute of Technology (KIT), einem der führenden deutschen Forschungscluster für Digitalisierung, sind russische Partnerinstitute an einer Reihe von Kooperationsprojekten im Bereich der Digitalisierung beteiligt. Die Hochschule gehört zu den ersten Adressen in Deutschland für Digitalisierung. Hier wird intensiv zu den Themen „Industrie 4.0“, Technologien zur digitalen Verschlüsselung, Blockchain, „Human-centred engineering“ oder „virtual reality“ geforscht. Jedes Jahr entstehen am KIT 20 neue Startups.

Mit Russland werden nach Auskunft der Institutsleitung aktuell 60 Projekte mit 30 verschiedenen russischen Forschungseinrichtungen umgesetzt. Im Auftrag des russischen Wirtschaftsministeriums hat die Sberbank die Digitalplattform „Delovaja Sreda“ für kleinere- und mittlere Unternehmen entwickelt.

Hieran ist beispielsweise die Metro AG mit einem eigenen Ausbildungsmodul für Einzelhändler und Gastronomiebetriebe beteiligt. Weitere digitale Dienstleistungen sind geplant. Im Rahmen des Deutsch-Russischen Rohstoff-Forums ist eine Arbeitsgruppe „Digitalisierung der Rohstoffwirtschaft“ aktiv, die sich aktuell mit den Themen Mining 4.0 und Arbeitssicherheit beschäftigt.

Fazit

Auch wenn ein anderer Eindruck vermittelt wird: Europa braucht Russland mehr als Russland Europa. Russland könnte notfalls auch alleine und autark existieren. Europa nicht.

In den russisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen steckt mehr Dynamik, als die Öffentlichkeit vermutet. Das Potenzial für die Zukunft ist schier unermesslich. Der Ausbau der neuen Seidenstraße toppt dieses gewaltige Potenzial einmal mehr.

Allerdings war eine deutsch-russische Zusammenarbeit historisch zunächst den britischen Herrschern, aber auch den französischen - und später ebenso den US-amerikanischen Regierungen mehr als nur ein Dorn im Auge. Die Angst vor einer engen Zusammenarbeit führte im letzten Jahrhundert zu bekannten Katastrophen. Dass diese Ängste heute geringer sind, darf bezweifelt werden. Die Briten bringen sich bereits in Position…

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