1911: Krieg zwischen Osmanen und Italien

26. September 1911. Mit einem Ultimatum forderte Italien das Osmanische Reich auf, binnen 48 Stunden die Provinzen Tripolitanien, Fezzan und die Cyrenaika, das heutige Libyen, an Rom abzutreten. Der entschiedenen Ablehnung der Osmanen folgte sobald die Kriegserklärung Italiens: Von der Vision besessen, an der Küste Nordafrikas ein neues Römisches Reich entstehen zu lassen, erklärte Italien dem Osmanischen Reich am 29. September den Krieg.

Ein italienisches Expeditionsheer von 40.000 Mann landete an den Stränden von Tripolitanien und schafft es in kurzer Zeit Tripolis, Homs, Bengazi, Tobruk und Darna zu erobern. Doch die einheimische Bevölkerung begrüßte sie nicht als Befreier, sondern als Invasoren. In den von Italien besetzten Küstenabschnitten kommt es zu Massenerschießungen und Vergewaltigungen an der Zivilbevölkerung. Der Beginn eines schleichenden Genozids, der später unter Mussolini mit über einer halben Million Opfer seinen Höhepunkt finden wird.

Kemal Atatürk begleitet den Kriegsminister

Während die Italiener die Küstenstädte halten und die Seehoheit erringen, schiffen sich über Thessaloniki hunderte osmanische Offiziere ins ägyptische Alexandria ein. Mit falschen Papieren, die sie als Kaufleute oder Mediziner ausweisen, kommen sie an den britischen Behörden vorbei und erreichen später mit einer Karawane die Grenzstadt Sollum.

Unter ihnen Ismail Enver. Er wird später als Enver Pascha zum Kriegsminister avancieren und das Osmanische Reich in den Weltkrieg führen. Begleitet wird er von Mustafa Kemal, der später aus den Trümmern des Reiches die neue Republik Türkei gründen und dafür den Beinamen Atatürk (Vater der Türken) erhalten wird. 

Oberbefehlshaber Ismail Enver schlägt sein Hauptquartier im Hinterland der Küstenstadt Darna auf. Dem damaligen Kampfschauplatz liegen heute die türkischen Touristenhochburgen Bodrum und Marmaris gegenüber, die nur 600 km entfernt sind. Einzig die griechische Insel Kreta, die 1908 ihre Unabhängigkeit von den Osmanen erklärte, trennt hier beide Küsten voneinander.

   

Mustafa Kemal und  Ismail Enver mit libyschen Scheichs

    

Erdgas: Ankara bietet Tripolis bilaterales Abkommen um im Rohstoffkampf wieder mitzumischen

Jene Region ist wieder in den Blickpunkt des weltpolitischen Interesses gerückt: In diesem Seegebiet befinden sich riesige Erdgasreserven. Bereits nach dem Tod von Oberst al-Gaddafi im Jahr 2011 beanspruchte Griechenland 40.000 Quadratkilometer des internationalen Gewässers nördlich von Libyen und ließ die Türkei im östlichen Mittelmeer damit aufhorchen.

Griechenland hatte es geschafft, Zypern, Israel, Ägypten und die Palästinenser an einen Tisch zu bringen, um sich über die Aufteilung der Fördergebiete zu einigen. Die Türkei wurde von Anfang an nicht in das Gas-Forum eingebunden.

Ein mögliches Abkommen zwischen griechischen Zyprioten und Griechenland über die Aufteilung der Hoheitsgebiete der Seestreitkräfte wären für die Türkei ein katastrophales Szenario. Ankara offeriert Tripolis ein bilaterales Abkommen, das Libyen weitere 16.000 Quadratkilometer Seehoheit sichern und im Gegenzug für die eigene Marine freie Hand im östlichen Mittelmeer garantieren könnte, auch mit einer türkischen Marinebasis.

Die Türkei hat sich gegen General Haftar, Ägypten und Saudi-Arabien positioniert

Um aus der drohenden Isolation auszubrechen, sucht die Türkei den Befreiungsschlag in der libyschen Mission. Dabei ist Libyen kein unbekanntes Terrain für Ankara. Das Osmanische Reich beherrschte einst über Tripolis, Tunis und Algier das östliche Mittelmeer. Unter Oberst Gaddafi haben viele türkische Unternehmer in Libyen große Projekte realisieren können, weshalb die Türkei die NATO-Intervention während des Bürgerkrieges entschieden ablehnte.

Nach dem Umbruch suchte die Türkei schnell Kontakt zu den neuen Führern, denn die Libyer selbst sehen in der Türkei immer noch einen alten Waffengefährten aus den Tagen des Unabhängigkeitskrieges. Die Zusage des türkischen Staatspräsidenten Erdogan, die heutige, international anerkannte libysche Regierung in Tripolis im Kampf gegen die Armee von General Haftar unterstützen zu wollen, ist von großer strategischer Bedeutung für die Region.

Nicht zuletzt wegen der Gefangennahme türkischer Matrosen und der Androhung, türkische Schiffe unter Beschuss nehmen zu lassen, hat sich General Haftar in Ankara keine Freunde gemacht. Die Türkei hat sich auf dem Schachbrett Libyens positioniert, nicht allein gegen Haftar, sondern viel mehr gegen Ägypten und Saudi-Arabien, die ihn unterstützen.

Premierminister der Tripolis-Regierung, Fayez al-Sarraj, gehört zur Bruderschaft, die 1911 Seite an Seite mit den Osmanen kämpfte

1911 strömten Tag für Tag Stammeskrieger der Barassa, Mashashiya, Zuwayah, Al-Hassa und Beduinen der Aulad-Ali, mit alten Waffen, Proviant und Kamelen ausgestattet ins Lager der Osmanen. Es sind jene Stämme, die Libyen bis heute prägen und Gaddafi im Bürgerkrieg ihre Unterstützung versagten.

Besonderen Einfluss übte der islamische Orden der Senussi-Bruderschaft aus. Er vereinte die Stämme und folgte dem Aufruf des osmanischen Sultan-Kalifen gegen die Invasoren zu kämpfen. Der heutige libysche Premierminister der Tripolis-Regierung, Fayez al-Sarraj, entstammt dieser Bruderschaft, bereits sein Vater bekleidete unter dem letzten Senussi-König Idris ein Ministerium.

„Wir werden im Innern des Landes unsere Kräfte sammeln. Berittene arabische Truppen, befehligt von jungen türkischen Offizieren, bleiben in dauernder Fühlung mit den Italienern und beunruhigen sie Tag und Nacht. Jeder Soldat, jede kleinere Abteilung wird überrumpelt und niedergemacht. Stärkeren Kräften weichen wir aus.“,

notierte sich der Oberkommandierende Ismail Enver ins Kriegstagebuch.

„Die ganze Nacht ununterbrochener Kanonendonner. Fast täglich haben wir jetzt Gefechte.“

Es gelingt den Osmanen ein Heer mit bis zu 40.000 Mann aufzustellen und die Italiener unter Druck zu setzen. Die jungen osmanischen Offiziere stoppen mit ihrer Guerilla-Taktik jeden italienischen Vorstoß:

„Die ganze Nacht ununterbrochener Kanonendonner. Fast täglich haben wir jetzt Gefechte.“,

gibt der Feldbericht wieder. Der „Tripolitanienkrieg“ in der libyschen Wüste formt die jungen Offiziere und ebnet ihnen den Weg für die kommenden Materialschlachten des Ersten Weltkrieges. 

So hat der italienische Pilot Giulio Gavotti in diesem Krieg über einer libyschen Oase die erste Fliegerbombe der Geschichte abgeworfen und zugleich damit den Luftkrieg des 20. Jahrhunderts eingeläutet.

Mit dem Frieden von Ouchy verloren Osmanen nur offiziell ihren Einfluss

Als sich auf dem Balkan eine militärische Allianz gegen das Osmanische Reich formiert, wird die Istanbuler Regierung gezwungen in Waffenstillstandsverhandlungen einzutreten. Mit dem Frieden von Ouchy (1912) verloren die Osmanen ihre letzten Besitzungen in Nordafrika und die Inselgruppe des Dodekanes.

Doch auch nach dem offiziellen Abzug der osmanischen Verbände unterstützte Istanbul die libyschen Aufständischen weiterhin gegen die Italiener. Wenig später im Ersten Weltkrieg wird das Plateau wieder zum Kriegsschauplatz. Die Stämme binden gemeinsam mit den Osmanen bis zu 120.000 Soldaten alliierter Verbände in der Wüste und werden durch deutsche U-Boote mit Nachschub versorgt. Erst im Sommer 1918 werden die Osmanen endgültig abziehen.

Erhält die Türkei Tripolis als Marinebasis, wird der Erdgas-Streit neu aufgerollt

Der längst vergessene Krieg von 1911 wirft seine Schatten voraus. Das destabilisierte Libyen wird nun zum Spielball der Mittelmeeranrainerstaaten. Ein Sieg General Haftars im Bürgerkrieg wird zugleich der Ausbeutung der Ressourcen Vorschub leisten. Für die Türkei bleibt Libyen altes osmanisches Territorium.

Mit den militärischen Stützpunkten am Persischen Golf und am Roten Meer hat die Türkei im Nahen Osten bereits jene Außenposten reaktivieren können, die damals von den Osmanen unterhalten wurden. Mit Tripolis als Marinebasis verfügte die Türkei im östlichen Mittelmeer über ein starkes Gegengewicht zu den unbequemen Anrainerstaaten und könnte zugleich im Erdgas-Streit neue Akzente setzen.

Rasim Marz ist Historiker für die Geschichte des Osmanischen Reiches. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische Diplomatie des 19. Jahrhunderts und die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.

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