Warum korrupte Minister nicht belangt werden können

Das Wort „Skandal“ wird in Griechenland von Politik und Presse gern inflationär eingesetzt. Überall dort, wo im deutschen Sprachgebrauch aus Gründen politischer und juristischer Korrektheit über Affären berichtet wird, titeln griechische Medien mit Hyperlativen an welche das Wort Skandal angehängt wird über die jeweiligen Ungereimtheiten.

In Anlehnung an den berühmten Watergate-Skandal der USA ist alternativ eine Schlagzeile mit dem Anhängsel „Gate“ an den Namen der involvierten Firmen oder Personen möglich. Aktuell beschäftigt die „Novartis-Gate“-Affäre die griechische Öffentlichkeit.

Ein Überblick über wichtige chronologische Vorgänge im aktuellen Fall kann zusammen mit Details zu den Hintergründen der griechischen Strafgerichtsbarkeit für Regierungsmitglieder viele Fehler im griechischen System, aber auch das Versagen der Kreditgebertroika, belegen.

Spielt Tsipras die Strafjustiz als Trumpfkarte aus?

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fragt sich in einem Artikel vom Montag den 12. Februar, ob Tsipras in der aktuellen Affäre die Justiz manipuliert hat. Tatsächlich ist jegliche Manipulation im Sinn eines strafrechtlichen Verfahrens aufgrund der geltenden Gesetzgebung auf jeden Fall zum Scheitern verurteilt. Das geltende Recht schützt Regierungsmitglieder vor strafrechtlichen Konsequenzen – nicht aber vor der politischen Bloßstellung in der Öffentlichkeit.

Letztere wird in Hellas gern als Mittel zur Gewinnung von Wählerstimmen eingesetzt. Nach dem Motto „die anderen sind doch noch schlimmer“ wird dem Wähler das kleinere Übel nahegelegt.

Über Regierungsmitglieder richtet nur das Parlament!

Allen größeren Skandalen der jüngeren griechischen Geschichte ist eins gemeinsam. Die „Skandalogie“ deckte Milliardenschäden für die griechische öffentliche Hand auf, zahlreiche Politiker wurden in die jeweilige Affäre verstrickt und am Ende gingen fast alle straffrei aus. Den Milliardenschaden, der unbestreitbar besteht, zahlt in allen Fällen die Allgemeinheit.

Bis auf eine prominente Ausnahme, den früheren PASOK-Vize Akis Tsochatzopoulos. Er war Minister für öffentliche Arbeiten (1981–1985), Minister beim Ministerpräsidenten (1985–1987), Innenminister (1987–1989), Minister für Transport und Kommunikation (1989–1990), erneut Innenminister (1993–1995), Verteidigungsminister (1996–2001) und Entwicklungsminister (2001–2004).

Tsochatzopoulos wurde nicht etwa wegen Bestechlichkeit verurteilt, wie oft kolportiert wird, sondern wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Er hatte die empfangenen Schmiergelder aus nachvollziehbaren Gründen nicht korrekt versteuern können. Das Bunkern auf schweizerischen Nummernkonten und Immobilieninvestments wurde ihm als aktive Geldwäsche ausgelegt.
Der Hauptgrund für die faktische Straffreiheit korrupter Politiker ist der Verfassungsartikel 86.

Artikel 86 der griechischen Verfassung in der gültigen Fassung von 2001 (Strafverfolgung von Mitgliedern der Regierung, Sondergericht)

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Nur das Parlament hat das Recht zur Strafverfolgung gegen jene die Mitglieder der Regierung oder Staatsminister sind oder waren für Vergehen, welche während der Ausübung ihres Amts begangen wurden. Der Erlass von sui generis Strafbeständen für ministerielle Vergehen ist untersagt.

  1. Strafverfolgung, Verhöre, strafrechtliche Ermittlung oder Vorermittlungen gegen die Personen und die Vergehen, die in Paragraph 1 erwähnt sind, sind ohne vorherigen Beschluss des Parlaments gemäß Paragraph 3 verboten. Wenn es im Rahmen einer anderen strafrechtlichen Ermittlung, Vorermittlung oder amtlichen Untersuchung Hinweise gibt, welche mit Personen oder Strafbeständen des vorherigen Paragraphen in Verbindung stehen, werden diese ungelesen an das Parlament, welches die Ermittlung, Vorermittlung oder Untersuchung durchführt, weitergeleitet.
  2. Ein Antrag zur strafrechtlichen Ermittlung wird von mindestens dreißig Parlamentariern gestellt. Das Parlament entscheidet mit absoluter Mehrheit aller Parlamentarier, ob es einen speziellen parlamentarischen Ausschuss für die Durchführung der Vorermittlung einberuft, ansonsten wird der Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Das Verdikt des Ausschusses des vorherigen Absatzes wird dem Plenum des Parlaments vorgelegt, welches über die Durchführung oder Ablehnung einer Strafverfolgung entscheidet. Die Entscheidung darüber wird mit der absoluten Mehrheit sämtlicher Parlamentarier getroffen. Das Parlament kann die Rechte aus Paragraph 1 bis zum Ende der zweiten regulären Sitzungsperiode, welche sich an das Begehen des Straftatbestands anschließt, ausüben. (1) Mit dem Verfahren und der Mehrheit des ersten Absatzes dieses Paragraphen kann das Parlament zu jedem Zeitpunkt seine Entscheidung widerrufen oder die Strafverfolgung, das Vorverfahren oder das Hauptverfahren einstellen.
  3. Zuständig für die Gerichtsbarkeit der betreffenden Fälle in erster und letzter Instanz ist als Oberster Gerichtshof das Sondergericht, welches sich für jeden Fall aus sechs Mitgliedern des Staatsrats und sieben Mitgliedern des Areopags konstituiert. Die regulären und stellvertretenden Mitglieder des Sondergerichts werden unter den Mitgliedern dieser beiden obersten Gerichte, die vor der Einreichung des Antrags zur Strafverfolgung ihren Rang erhalten haben oder inne hatten, und nach der Erklärung der Strafverfolgung durch den Präsidenten des Parlaments ausgelost. Dem Sondergericht sitzt das ranghöchste ausgeloste Mitglied des Areopags vor – bei Ranggleichheit entscheidet eine längere Dienstzeit.Im Rahmen des Sondergerichts dieses Paragraphen wird ein Gerichtsrat eingesetzt, der für jeden Fall aus zwei Mitgliedern des Staatsrats und drei Mitgliedern des Areopags gebildet wird. Die Mitglieder des Gerichtsrats können nicht gleichzeitig Mitglieder des Sondergerichts sein. Mit Entscheidung des Gerichtsrats wird eines seiner Mitglieder, das dem Areopag angehört, zum Untersuchungsrichter bestimmt. Das Vorverfahren endet mit dem Erlass eines Verdikts. Die Rolle des Staatsanwalts im Sondergericht und im Gerichtsrat dieses Paragraphen übernimmt ein Mitglied der Staatsanwaltschaft des Areopags, welches zusammen mit seinem Stellvertreter ausgelost wird. Der zweite und der dritte Absatz dieses Paragraphen gelten auch für die Mitglieder des Gerichtsrats und der zweite Absatz gilt auch für den Staatsanwalt.
    Wenn eine Person, welche Regierungsmitglied oder Staatsminister ist oder war und vor dem Sondergericht angeklagt wird, werden sämtliche eventuellen Mittäter ebenfalls vor das Sondergericht gestellt, wie es das Gesetz vorschreibt.
  4. Wenn aus welchem Grund auch immer, wobei auch die Verjährung enthalten ist, das Verfahren der Strafverfolgung gegen eine Person, welche Mitglied der Regierung oder Staatsminister ist oder war, nicht abgeschlossen wird, kann das Parlament auf Antrag des Betroffenen oder seiner Erben einen Sonderausschuss, in den auch oberste Richter einberufen werden können, zur Untersuchung der Vorwürfe einberufen.

(1)    Der Verjährungsabsatz war in der ersten Version der Verfassung von 1975 nicht enthalten.

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Eine verfassungsmäßig verankerte Regelung zur Art und Möglichkeit der Strafverfolgung gegen Regierungsmitglieder ist seit 1844 in den griechischen Verfassungen enthalten. Die Verfassungsänderung von 2001 wurde von 268 Abgeordneten der PASOK und der Nea Dimokratia im 300 Sitze umfassenden griechischen Parlament abgesegnet.

Es gibt zahlreiche Diskussionen darüber, ob es sich um eine verfassungswidrige Verfassungsnorm handelt, oder nicht. Faktisch steht Artikel 86 konträr zum verfassungsmäßigen Gebot „alle Griechen sind vor dem Gesetz gleich“. Allerdings fehlt es Griechenland auch an einem designierten Verfassungsgericht. Eine Verfassungsänderung ist nur zu bestimmten Terminen möglich.

Manipulation der Justiz?

Mit Grundlage des strittigen Artikels ist jede politische Diskussion hinsichtlich strafrechtlicher Konsequenzen von ministeriellen Vergehen vor der Erhebung der offiziellen Anklage manipulativ. Damit ist eine effektive Strafverfolgung in welcher Form auch immer a priori ausgeschlossen. Wenn, wie im Fall des aktuellen Novartis-Gate die Staatsanwaltschaft Ermittlungen vornimmt, nachdem aus den USA einschlägige Hinweise übermittelt wurden, liegt bereits ein Verstoß gegen Artikel 86 Paragraph 2 der Verfassung vor.

Die ersten Hinweise aus den USA kamen im November 2017. Die letzte Zeugenaussage zum Fall wurde von der Staatsanwaltschaft für Korruption am Sonntag, den 4. Februar 2018 aufgenommen. Erst am 5. Februar 2018 wurde die Weiterleitung der Akte ans Parlament eingeleitet. Am 6. Februar wurde die Ermittlungsakte offiziell ans Parlament übergeben.

Zwischenzeitlich, in den vergangenen Monaten, hatten der Regierung nahe stehende Medien und Minister öffentlich Andeutungen über Details der Affäre gemacht.

Vizejustizminister Papangelopoulos sprach am 5. Februar vom größten Skandal seit Bestehen des neugriechischen Staats. Wie, so fragen sich die in die Affäre involvierten Politiker, konnte er den Inhalt der Akte kennen?

Die Affäre hat noch zahlreiche weitere Facetten. So wurde zum Beispiel der Zeugenschutz für drei Kronzeugen effektiv ausgehebelt, indem der Presse Dokumente des FBI mit Klarnamen der Zeugen zugespielt wurden. Es ist offensichtlich, dass derartige Indiskretionen der Justiz, vor allem in Zusammenhang mit dem delikaten Thema des Zeugenschutzes, Fehler im System belegen.

Unter Verdacht der Beteiligung -in der einen oder anderen Form- stehen laut der Ermittlungsakte, welche dem Parlament vorliegt:

  1. Der frühere Premierminister (20-6-2012 bis 26-1-2015) Antonis Samaras
  2. Der frühere Vizepremierminister (25-6-2013 bis 25-1-2015) und Finanzminister (17-6-2011 bis 21-3-2012) Evangelos Venizelos
  3. Der frühere Interimspremierminister Panagiotis Pikrammenos (16-5-2012 bis 20-6-2012)
  4. Der frühere Gesundheitsminister (2006 bis 2009) und aktuelle EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos
  5. Der frühere Gesundheitsminister (25-6-2013 bis 9-6-2014) und aktuelle Vize der Nea Dimokratia Adonis Georgiadis
  6. Der frühere Finanzminister (5-7-2012 bis 10-6-2014) und aktuelle Präsident der Notenbank Yannis Stournaras
  7. Der frühere Gesundheitsminister (7-9-2010 bis 17-5-2012) Andreas Loverdos
  8. Der frühere Gesundheitsminister (21-6-2012 bis 25-6-2013) Andreas Lykourentzos
  9. Der frühere Vizegesundheitsminister (22-6-2012 bis 23-6-2013) Marios Salmas
  10. Der frühere Arbeits- und Sozialminister (Juni 2011 bis Mai 2012) Giorgos Koutroumanis

Am Montag, den 12. Februar hat Premierminister Alexis Tsipras in einer Ansprache an seine Fraktion verkündet, dass die SYRIZA Fraktion formgerecht den Antrag auf Strafverfolgung im griechischen Parlament gestellt hat.

Von der Strafermittlung ausgenommen wurde der zu SYRIZA gehörende frühere Gesundheitsminister Panogiotis Kouroublis, der im ersten Halbjahr 2015 amtierte. Auch wenn ihm keine Korruption nachweisbar wäre, hätte er sich zumindest für die Verzögerung der Herausgabe einer neuen Preisliste für Medikamente verantworten müssen. Allerdings ist auch hier jegliches eventuelles Vergehen bereits verjährt.

Die Troika als Zuschauer?

Wie die Ermittlungsakte zeigt, fand ein Großteil der mutmaßlichen Vergehen in der Periode der Überwachung Griechenlands durch die Kreditgebertroika, also seit 2010, statt. Im „Novartis-Gate“ geht es nur vordergründig um illegale Vergünstigungen der schweizerischen Pharmafirma an griechische Entscheidungsträger. Eigentlich müsste es nicht nur um den betreffenden Konzern gehen.

Denn, die Quintessenz des Falls liegt in der Festlegung der Pharmapreise durch die griechische Regierung. Die hellenischen Pharmapreise sind für den internationalen Markt Referenzpreise, womit jegliche Preismanipulation in Griechenland nicht nur die hellenischen Sozialversicherer, sondern auch alle anderen, welche Griechenland als nominelles Niedrigpreisland für ihre Preisfindung verwenden.

In Hellas gibt es das Phänomen, dass Markenmedikamente eines Herstellers durch einfache Umbenennung ihres Verkaufsnamens oder ihrer Verpackungsform einen vielfach höheren staatlichen Preis erzielen können. Das, und nicht die Verquickung von Presse, Justiz und Politik in Griechenland dürfte, wenn sich die vorliegenden Ermittlungsakten als korrekt manifestieren, der eigentliche Skandal sein.

Dann allerdings sollten sich die Ermittlungen nicht nur auf einen Konzern aus Europa konzentrieren, sondern zusätzlich die gesamte Gestaltung der Pharmapreisliste in Griechenland umfassen. Das wiederum ist eine Aufgabe, die Hellas unter den gegebenen Rahmenbedingungen unmöglich meistern kann.

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