FOCUS-MONEY: Herr Müller, Sie sind der bekannteste Börsianer in Deutschland. Wie oft wird man als Mr. Dax im Supermarkt nach einem Aktientipp gefragt?

Dirk Müller: Das passiert schon oft. Aber die Leute sind immer sehr freundlich, und ich freue mich darüber.

MONEY: Was ist denn der beste Tipp, den Sie jemals bekommen haben?

Müller: Von einem ehemaligen Vorstand an der Frankfurter Börse. Ich solle mich mit Gold beschäftigen. Das habe ich dann auch gemacht und darin investiert. Das war Ende der 1990er-Jahre. Seitdem hat es sich sehr positiv entwickelt.

MONEY: Was macht außer Gold die Erfolgsformel von Dirk Müller aus?

Müller: Wenn die Börse eines lehrt: Dann ist es Demut. Man bekommt am meisten auf die Nase, wenn man sich zu sicher ist. Wenn alle glauben, dass die Kurse nur noch steigen können, dann wird es ganz gefährlich.

MONEY: Hat sich die Gier in den letzten Jahren noch verstärkt?

Müller: Früher haben die Anleger die Unternehmen vorangebracht. Das war der ursprüngliche Sinn eines Börsengangs. Heute geht es ein bisschen zu wie im Casino. Für Zocker ist das ein Paradies. Wenn Aktien von gestandenen Unternehmen innerhalb von wenigen Tagen um 20 Prozent schwanken, ohne dass etwas passiert ist, dann waren die Kurse ja zu 90 Prozent während dieses Zeitraums falsch. Das ist doch nicht mehr normal.

MONEY: Jetzt beschwören viele Ökonomen das New Normal. Also weniger Wachstum und geringere Aktienrenditen. Lohnen sich Aktien dann künftig überhaupt noch?

Müller: Wir werden auch weiterhin starkes Wachstum vieler einzelner Unternehmen und damit auch entsprechend hohe Gewinnmöglichkeiten sehen. Dass es Branchen wie den stationären Einzelhandel gibt, in denen es künftig ruhiger wird, ist davon unberührt.

MONEY: Was könnte einen Crash auslösen?

Müller: Lassen wir mal die geopolitischen Risiken außen vor. Für mich ist China das größte Risiko. Wir haben dort die größte Blase der Weltwirtschaftsgeschichte. Momentan passt ein Bild sehr gut für die Märkte: Stellen Sie sich eine Villa vor, wir feiern da drin eine heiße Party. Das Problem ist: Die Villa liegt in San Francisco über der San-Andreas-Spalte. Wir kennen also das Problem, aber das ist noch kein Grund, die Party abzublasen. Wir sollten die Seismografen im Auge behalten. Und wenn die ausschlagen, dann heißt es: rennen!

MONEY: Wann müssen wir denn losrennen?

Müller: Es geht gut, solange die Zinsen in den USA und Europa niedrig bleiben und die Notenbanken Netto-Kapital in die Märkte pumpen. Man hat 20 Jahre lang billig Geld aufgenommen und dann in China investiert. Man zahlte in den USA beispielsweise zwei Prozent Zinsen und hatte 15 Prozent Wachstum in China. Und das wurde mit Billionen gemacht. Das Problem: Heute liegt das Wachstum in China offiziell nur noch bei 6,5 Prozent, und selbst diese Zahl muss man bezweifeln.

MONEY: Aber die Chinesen können ihre Statistiken doch weiterhin frisieren ...

Müller: Das tun sie seit Langem, das geht eine Weile gut, aber nicht ewig. Dazu ein Beispiel: Das Wachstum in China fällt auf fünf Prozent, und die Zinsen in den USA steigen auf vier oder fünf Prozent. Wer investiert dann noch in China bei den Risiken? Dann werden die Investoren ihr Geld vielmehr aus China abziehen und ihre Kredite in den USA zurückzahlen. Und genau das passiert im Moment schon.

MONEY: Aber ohne China wankt doch das Wachstum weltweit. Werden es die USA so weit kommen lassen?

Müller: Da geht es um größere strategische Zusammenhänge. Wird Amerika einfach zuschauen, wie China die Weltmacht übernimmt? China wurde aufgepumpt wie ein Ballon – und die USA können ihn jederzeit zum Platzen bringen durch höhere Zinsen. Das wird den USA auch wehtun, aber China wird dann in eine katastrophale Rezession rutschen, in der viele Strukturen zerbrechen.

MONEY: Aber die Chinesen wissen das ja auch. Die werden doch im Notfall gegensteuern ...

Müller: Das machen sie schon seit Jahren mit massivem Aufwand. Und das kann auch noch mal zehn Jahre klappen. Aber es wird böse enden. Die Unternehmen sind massiv verschuldet, mit etwa 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Und von denen machen viele nicht mal einen Gewinn und finanzieren mit Schulden nur ihre Verluste.

MONEY: Die USA festigen ihre Machtposition, China schmiert ab, sind dann am Ende wir Europäer die wahren Verlierer?

Müller: Wenn das passiert, stehen wir weltweit vor extremen Herausforderungen. Vor allem weil wir momentan überall auf Weltrekordniveau notieren. Rekorde am Aktienmarkt, aber auch Rekordschulden. Wenn also die China-Blase platzt, dann haben wir einen Crash, der mehr an 1929 erinnern würde als an 2008.

MONEY: Also sofort alles verkaufen?

Müller: Nein. Es kann durchaus sein, dass der große Knall erst in 30 Jahren kommt. Das beste Beispiel ist der Kommunismus. Er war von Beginn an zum Scheitern verurteilt, aber es hat halt 70 Jahre gehalten. Wir können eben nur die Wirkmechanismen beschreiben. Wann ein Crash kommt, kann niemand sagen, bevor er tatsächlich da ist.

MONEY: Also bleiben Sie grundsätzlich bullish?

Müller: Fürs erste Quartal bin ich bullish. Es stehen alle Ampeln auf Grün. Einige Anleger sind noch nicht investiert und werden noch einsteigen. Aber auch die Risiken steigen, und ich bin bereit, sofort gegenzusteuern. Die amerikanischen Zinsen steigen eben bereits. Das lässt sich bei allen Laufzeiten der US-Staatsanleihen ablesen. Noch ein Beispiel: Die Dividendenrendite beim S&P-500 ist erstmals unter die Verzinsung der zweijährigen US-Staatsanleihen gefallen.

MONEY: Bleiben wir noch beim Thema Blase. Was sagen Sie zum Bitcoin?

Müller: Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es noch mal eine Tulpenblase gibt. Und dass sogar noch einer draufgesetzt wird. Die Tulpen hatten wenigstens noch einen inneren Wert. Die konnte man notfalls in den Salat schneiden. Der Bitcoin ist komplett wertlos! Es ist ein klassisches Schneeballsystem.

MONEY: Aber es glauben offensichtlich viele Investoren daran ...

Müller: Das beste Beispiel ist Dogecoin. Diese Kryptowährung war als Parodie für den Bitcoin gedacht – und heute hat dieser Gag eine Marktkapitalisierung von mehr als zwei Milliarden Dollar. Das ist doch Wahnsinn!

MONEY: Würden Sie Bitcoin als Betrug bezeichnen?

Müller: Betrug ist es nicht. Es wird den Leuten ja nichts vorgespielt. Die Regeln sind transparent.

MONEY: Aber er könnte ja trotzdem einfach weitersteigen, oder?

Müller: Ja, natürlich. Wenn Anleger mitzocken und damit verdienen, dann finde ich das okay. Aber jeder muss wissen, was er da tut. Und man darf beim Schneeballsystem nicht der letzte Idiot sein ...

MONEY: Kommen wir zur politischen Lage in Deutschland. Eine Regierung ist noch nicht in Sicht. Und außer der Großen Koalition scheint es sowieso keine Alternative mehr zu geben. Leben wir überhaupt noch in einer Demokratie?

Müller: Wir haben noch nie in einer Demokratie gelebt. Das hat schon Richard Coudenhove-Kalergi festgestellt. Und der war Gründungsvater der Europäischen Union und Träger des ersten Karlspreises. Seine Theorie: Wir leben in einer Plutokratie.

MONEY: Das müssen Sie uns erklären ...

Müller: Wir leben unter der Herrschaft von jenen, die viel Geld haben und damit auch Einfluss. Und Coudenhove-Kalergi beschreibt auch, warum das durchaus sinnvoll ist. Die Leute würden es aber nicht akzeptieren, und deswegen wurde eine Scheindemokratie vorgeschoben. Die Leute denken, dass sie mitreden können, aber am Ende ist es nicht der Fall.

MONEY: Aber das kann doch auf Dauer nicht funktionieren, oder?

Müller: Gefährlich wird es, weil wir mittlerweile bei einer Kleptokratie angelangt sind. Früher musste man Politiker noch bestechen, heute baut man sie einfach selbst auf. Schauen Sie auf die USA. Ein Baulöwe wird Präsident und senkt erst mal die Steuern. Und ein ehemaliger Banker von Goldman Sachs wird Finanzminister.

MONEY: Werden die Sparer dann nur noch abgezockt?

Müller: Ja! Es geht in der Politik zu wie in einem Selbstbedienungsladen.

MONEY: Gehen Sie dann überhaupt noch wählen?

Müller: Nein. Das bringt ja nichts. Die Mächtigen machen sich die Welt, so wie sie ihnen gefällt, und sie sorgen dafür, dass beim Rest gerade genug hängenbleibt, damit der nicht auf die Barrikaden geht. Damit habe ich mich abgefunden, aber ich muss dieses Affentheater nicht mitmachen und diese Politiker auch noch wählen. Außer bei der Kommunalpolitik, da können Wähler noch persönlich Einfluss nehmen.

MONEY: Aber gerade in Deutschland bräuchten wir eine starke Führung. Bei der Digitalisierung sind wir hintendran. Haben wir noch eine Chance, künftig vorn mitzumischen?

Müller: Wir dürfen nicht mehr in diesen nationalen Grenzen denken. Den Unternehmen ist das auch völlig egal. Manche Dax-Konzerne produzieren in 140 Ländern der Welt, das Kapital kommt aus der ganzen Welt. Die haben den Firmensitz oftmals nur noch aus Tradition in Deutschland.

MONEY: Aber irgendwie müssen wir ja auch künftig Arbeitsplätze sichern ...

Müller: Gerade die Automobilindustrie muss sich etwas überlegen. Noch sind deutsche Autos der Renner, aber die Zukunft wird schwierig. Stichwort: selbstfahrende Elektroautos. Das gefährdet auch den Maschinenbau und die Chemiebranche.

MONEY: Klingt nach massiven Problemen ...

Müller: Definitiv werden wir die kriegen. Aber wir werden einen massiven Vorteil bei Fabriken haben, in denen nur noch Roboter arbeiten. Textilien werden ja eh schon seit Jahren in Billiglohnländern wie Bangladesch produziert. Wenn ich aber keine Löhne mehr zahlen muss, kann ich eine Fabrik auch in Sachsen-Anhalt mit besserer Rechts- und Planungssicherheit hochziehen.

MONEY: Aber wer finanziert dann die Arbeitslosen?

Müller: Da müssen wir als Gesellschaft neu denken. Bedingungsloses Grundeinkommen wird ein wichtiges Thema werden. Beispielsweise hat Siemens-Chef Joe Kaeser gerade einen spannenden Vorschlag gemacht: dass Konzerne mit vielen Mitarbeitern weniger Steuern zahlen müssen als jene Konzerne, die voll automatisiert sind. Und die Mehreinnahmen könnten dann als bedingungsloses Grundeinkommen ausbezahlt werden. Aber diese Grundsatzdiskussion hat gerade erst begonnen.

MONEY: Was halten Sie vom bedingungslosen Grundeinkommen?

Müller: Es ist komplex. Aber die Menschen werden an der Produktivität der Maschinen beteiligt werden müssen. Es wird für viele keinen Job mehr geben. Aber eigentlich ist das doch der Traum der Menschheit: dass wir nicht mehr arbeiten müssen, aber das tun können, was wir gern machen.

MONEY: Apropos Arbeit. Sie haben ja auch einen eigenen Fonds aufgelegt. Der hat zuletzt schlechter abgeschnitten als der Dax. Wie erklären Sie das eigentlich Ihren Investoren?

Müller: Wir sind 2015 stark gestartet und hatten eine Outperformance von bis zu 14 Prozent. 2016 sind wir dann aber massiv ins Hintertreffen geraten. Wir haben Ende 2016 vor der Trump-Wahl das Risiko heruntergefahren. Ich habe damit gerechnet, dass er die Wahl gewinnt. Aber ich konnte nicht einschätzen, was der Markt machen würde, und habe die Absicherungen hochgefahren.

Wir investieren ohnehin nur in stabile Unternehmen, und da gehören Banken nicht dazu. Nach dem Trump-Sieg waren es die explodierenden Banken, die teilweise mit Kursverdopplungen die Indizes nach oben getrieben haben. In einer heißen Phase kann man als sicherheitsorientierter Investor eben auch mal der Mops sein, aber die nächste Bankenkrise kommt auch wieder.

MONEY: Wie erfolgt die Absicherung konkret?

Müller: Wir arbeiten mit flexiblen, aber eng gestaffelten Future-Absicherungen. 2017 haben wir unseren Vergleichsindex mit dieser Strategie auch geschlagen.

MONEY: Aber das kann Anleger trotzdem viel Rendite kosten ...

Müller: Nicht zwangsläufig. Aktuell haben wir keine Absicherungen, wir laufen direkt mit dem Markt nach oben, aber ich will meinen Kunden am Ende keine Verluste von 50 oder 70 Prozent zumuten. Daher werden die Absicherungen sofort eingesetzt, sobald der Markt anfängt zu kippen. Es geht bei meinem Fonds darum, langfristig Vermögen aufzubauen, und wir wollen nicht zocken.

MONEY: Was verstehen Sie unter zocken?

Müller: Wir wollen am langfristigen Erfolg eines Unternehmens beteiligt sein, daher suchen wir starke und möglichst langfristig kalkulierbare Unternehmen aus. Es interessiert uns nicht, wo der Kurs in sechs Monaten steht, sondern wo das Unternehmen in fünf bis zehn Jahren wirtschaftlich steht.

MONEY: Nach welchen Kriterien suchen Sie denn Ihre Aktien aus?

Müller: Ich möchte Unternehmen mit einer starken Bilanz. Vor allem der freie Cashflow zählt für uns, also das, was wirklich übrigbleibt. Beim Gewinn kann man sonst auch tricksen. Und dann muss ein Unternehmen ein verständliches Geschäftsmodell mit Zukunft und Wachstumschancen bieten. Beispielsweise will ich kein Konglomerat wie Siemens kaufen. Für was stehen die?

MONEY: Welche Aktien gefallen Ihnen konkret?

Müller: Weltmarktführer wie Apple und Facebook, die sind nicht mehr einzuholen. Und das sind nicht nur Unternehmen, sondern Instrumente der Macht. Für die Eliten sind die Datenschätze sehr wertvoll, die dadurch generiert werden. Wirecard gefällt uns sehr gut. Aber wir setzen auch auf kleine Unternehmen wie Bakkafrost. Denen gehört eine der größten Lachsfarmen auf den Färöer-Inseln, und das alles seit Generationen im Familienbesitz. Solche Unternehmen wachsen jedes Jahr zweistellig und verdienen sich dumm und dusselig.

MONEY: Und welche Aktien gehen gar nicht?

Müller: Banken würde ich nicht kaufen. Und auch Tesla nicht. Das ist für mich ein totes Pferd – und das schon seit Jahren. Auch keine Rüstungsfirmen oder umstrittene Firmen wie Monsanto. 

MONEY: Wie viel Einfluss nehmen Sie bei Ihrem Fonds?

Müller: Ich bin voll involviert, und mein Fondsmanager und ich treffen alle Entscheidungen gemeinsam.

MONEY: Nun könnten Anleger aber auch einfach einen ETF kaufen und bei den Kosten sparen, oder?

Müller: Das kann man machen. Aber man muss wissen, was man tut. Ein ETF bildet den Index ziemlich genau ab. Wenn der Dax also um 50 Prozent abschmiert, dann wird es düster. Und das müssen Anleger erst wieder reinholen. Natürlich steigt der Markt nach einem Crash wieder. Aber wer in den 1980er-Jahren in Japan investiert hat, der hat nach 30 Jahren gerade mal die Hälfte seiner Verluste wieder aufgeholt. Man sollte die Party also immer rechtzeitig verlassen und das Geld vom Tisch nehmen.

Hiergehts zum Originalbeitrag auf Focus-Money. Wir danken für die Freigabe des Beitrags.

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