Einleitung

In den letzten Monaten und Jahren ist ein Hype um Social Media-Investments entstanden. Die Börsendebüts von Facebook, LinkedIn, Groupon und Zynga haben für Furore gesorgt. Einige Marktkommentatoren haben sich sogar dazu geäußert, dass sich eine neue Tech-Blase zusammenbraue. Facebook als unumstrittener Platzhirsch bei den sozialen Netzwerken hat jedoch von dieser angeblichen Euphorie nicht profitieren können – der Kurs ist seit der Börsen-Listung Mitte Mai über 40 Prozent gefallen. Jedoch spielt das Thema Social Media nicht nur als Anlagemöglichkeit in Aktien eine Rolle für die Investoren; die sozialen Netzwerke werden zuhauf genutzt, um Informationen zu recherchieren und sich mit anderen Anlegern auszutauschen. Soziale Medien sind dabei, im allgemeinen Analyse-Prozess vermehrt an Bedeutung zu gewinnen. Mit dem Fortschritt bei modernen Kommunikationsmöglichkeiten in der Medienlandschaft entfalten sich neue - auch börsenpsychologische - Analyse-Methoden.  

 

Abgestimmte Massenintelligenz

Im Jahre 1906 besuchte der britische Naturforscher Francis Galton eine Ausstellung für Schlachtvieh und Geflügel im Westen Englands. Dort fand jährlich ein Wettbewerb statt, bei dem das Gewicht eines Ochsen geschätzt wurde. Galton ging wie die meisten davon aus, dass Sachkundige, also Metzger, Viehhändler etc., eine genauere Schätzung abgeben würden als die teilnehmenden Laien. Als er alle 787 getätigten Schätzungen analysierte, wurde Galton, der übrigens ein Cousin des Evolutionstheoretikers Charles Darwin war, mit etwas Unerwartetem konfrontiert: Der Durchschnitt lag bei 1197 Pfund, während das tatsächliche Gewicht des Ochsen mit 1198 Pfund gemessen wurde. Dieser Wert war damit näher an dem wirklichen Gewicht, als die beste Einzelschätzung des Gewinners, die bei 1207 Pfund lag. Galton wollte an sich mit dem Experiment beweisen, dass die Masse, die zum Großteil aus Unkundigen besteht, schlechter abschneiden bzw. „dümmer“ sein müsse als die Fachleute. Nach diesem Versuch revidierte er jedoch in seiner Meinung; nun ging er von einer „kollektiven Weisheit bzw. Intelligenz“ der Massen aus.

Auf derartige Prinzipien einer Massen- bzw. Schwarmintelligenz berufen sich soziale Netzwerke gerne. Vor allem diejenigen Geschäftsmodelle, bei denen der Nutzer sich aktiv beteiligen kann. Sie erfahren nach wie vor wachsende Beliebtheit. Aufgrund von Abstimmungen werden Daten der Mitglieder erhoben, die danach als Informationen für eine Anlageentscheidung aufbereitet werden. Zum einen wird hinsichtlich konkreter Anlagemöglichkeiten gevotet; beispielsweise wie der weitere Verlauf eines bestimmten Aktienkurses oder des Goldpreises eingeschätzt wird. Der User entscheidet sich etwa zwischen den drei Möglichkeiten „Kaufen“, „Neutral“ oder „Verkaufen“.

Auf ähnliche Weise wird verfahren, wenn in Internet-Communities Sentimentanalysen durchgeführt werden. Auf Basis der Mitglieder-Einschätzung zur allgemeinen Börsenmarktentwicklung werden entsprechende Stimmungsindikatoren errechnet, die die börsenpsychologische Verfassung widerspiegeln sollen. Infolge dessen können Marktmeinungen gebildet bzw. Positionierungsstrategien entworfen werden. Nachdem die Teilnehmer angeklickt haben, ob sie glauben, dass zum Beispiel der DAX in der nächsten Woche steigen, seitwärts laufen oder fallen wird, wird das zusammengefasste Ergebnis präsentiert.

Ein gewichtiger Kritikpunkt bei solchen Abstimmungsverfahren in sozialen Netzwerken ist die Frage, wie repräsentativ die vorgelegten Resultate sind oder ob sie es überhaupt sein können. Denn im Grunde kann sich jeder Interessent anmelden. Dabei ist es unerheblich, ob er professioneller oder privater Anleger ist; oder ob er selbst im Markt investiert ist. Es ist an und für sich ausreichend, eine Meinung zur künftigen Börsenentwicklung zu vertreten. Durch einen Mausklick teilt der Internetuser, während eines vorgegeben Zeitraums, seine Einschätzung mit. Eine ungünstige Zusammensetzung der Mitgliederschaft, die die gesamte bzw. relevante Anlegerschaft nicht (annähernd) repräsentativ abbildet, kann das Ergebnis sehr verzerren und damit die viel beschworene Massen- bzw. Schwarmintelligenz ad absurdum führen.

 

Textlesende Roboter

In einer amerikanischen Forschungsarbeit wurde untersucht, ob zwischen den Suchanfragen auf Google zu einer bestimmten Aktie und dem Kursverlauf des Wertpapiers ein Zusammenhang besteht. Die zentrale Aussage der Studie besagt, dass es zwischen dem steigenden Volumen an Suchanfragen bezüglich einer bestimmten Aktie und einem darauf folgenden Kursanstieg einen statistischen Zusammenhang gibt (– meist mit einer Verzögerung von ein bis zwei Wochen). Es klingt einleuchtend, dass Anleger durch den Kauf der Aktie für einen Kursanstieg sorgen, wenn sie sich im Vorfeld mit ihr auseinandergesetzt haben. Immerhin signalisiert eine Suche nach einem bestimmten Suchwort das damit verbundene, direkte Interesse. Analog zu diesem Leitgedanken untersuchen Finanzinstitute Twitter-Meldungen nach Aktien. Die Kurznachrichten, die bei dem sozialen Netzwerk Twitter als „Tweets“ bezeichnet werden, durchforsten sie auf der Kommunikationsplattform per Textanalyse-Roboter nach dem jeweiligen Aktiennamen. Die Faustregel dabei lautet: Je häufiger die Aktie genannt wird bzw. je schneller die Zahl ihres Vorkommens steigt, desto höher ist die Aufmerksamkeit, die ihr geschenkt wird, und damit steigt die potenzielle Kaufbereitschaft.

Die methodische Suche nach Schlüsselwörtern im Internet, „Semantische Analyse“ genannt, kann zudem eingesetzt werden, um die Stimmungslage an den Märkten festzustellen. Die Indiana Universität im US-amerikanischen Bloomington hat bezüglich dessen eine Studie durchgeführt. Die Software, die der Suchroboter dabei genutzt hat, hat im Jahr 2008 über 9,8 Millionen Tweets von 2,7 Millionen Nutzern nach festgelegten Wörtern gesucht, um die Stimmungslagen zu kategorisieren und somit bestimmen zu können. Bei der Prognose, ob der Dow Jones Index auf Tagesbasis steigen oder fallen wird, konnte das Programm eine Trefferquote von 87,6 Prozent vorweisen.

 

„Social“-Kritik

Auf den ersten Blick scheinen derartige Forschungsergebnisse bahnbrechende Resultate zu liefern, was die Rolle von sozialen Netzwerken bei Börsenmarktanalysen angeht. Die Studien auf diesen Gebieten, die in rasantem Tempo zunehmen, sollten jedoch auch mit Skepsis betrachtet werden. Als ein Musterbeispiel kann die Studie zu einem Algorithmus auf Twitter-Basis von der University of California at Riverside herangezogen werden. Es wurde behauptet, dass damit um 11 Prozent bessere Ergebnisse erreicht werden konnte als mit vergleichbaren Algorithmen. Für die Arbeit wurde lediglich der Zeitraum zwischen dem 01. März 2010 und dem 30. Juni 2010 betrachtet. Zunächst bleibt unklar, ob vier Monate ausreichend sind, um die Ergebnisse des Algorithmus auf verschiedene Börsenphasen oder heftige Schwankungen über einen längeren Zeitraum zu beziehen. Zudem wurden 150 Unternehmen aus dem S&P-500-Index zufällig ausgewählt. Auch hierbei ersetzt eine willkürliche Auswahl den wissenschaftlichen Leitgedanken, sich um einen repräsentativen Schnitt zu bemühen. Darüber hinaus haben an der Studie auch drei Wissenschaftler der Forschungsabteilung von Yahoo in Barcelona teilgenommen. Da kann sich die Frage stellen, ob nicht durch Unternehmensbelange bedingte Einflussfaktoren von Yahoo das Ergebnis verzerrt haben könnten. Die wirtschaftlichen Einflüsse auf Forschungsarbeiten und die damit verbundenen Interessenskonflikte bleiben bei solchen Kooperationen zwischen Wissenschaft und Unternehmen gemeinhin fragwürdig. Dieses Exempel soll nicht alle Forscher und ihre Studien über einen Kamm scheren und ihnen Unbedachtheit, mangelnde Professionalität oder unredliche Absichten unterstellen. Es zeigt lediglich, dass trotz des Stempels der Forschung auch berechtigte Zweifel angebracht sein können, was dem kritischen Anleger bewusst sein sollte.

 

Gekaufte Freunde und rumorende Gerüchteküchen

Klicks werden häufig als eine Art Währung des Internets angesehen. Sie können genutzt werden, um das Interesse der Nutzer quantitativ zu erfassen. Gewissermaßen kann diese Internet-„Währung“ quasi geschöpft werden (wie bei unserem tatsächlichen Geldsystem ebenfalls…), ohne dass sie durch Substanz gedeckt ist. So können Facebook-Freunde gekauft werden, denen das Unternehmen „gefällt“ (Daumen hoch…). Für 340 Dollar hat man dann auf einmal 3.000 neue Freunde und sogar noch 2.500 neue Twitter-Follower, die im Preis inbegriffen sind. Aus dem Social-Media-Marketing sind noch weitere Möglichkeiten bekannt, wie manipuliert wird: Es werden Klickroboter eingesetzt, um die Besucherzahlen in die Höhe zu treiben. PR-Agenturen werden dafür bezahlt, gute Kundenrezensionen zu hinterlassen. Positive Bewertungen und Kommentare sowie offensichtliche hohe Zugriffszahlen bieten eine gute Basis für steigende Umsätze.

Schon als sich während der Dotcom-Euphorie die ersten großen Anleger-Foren gebildet haben, wurden sie genutzt, um manch einer Aktie auf die Sprünge zu helfen. Heutzutage hat das gezielte Streuen von erfundenen Gerüchten und Desinformationen durch die weit verbreitete Nutzung von sozialen Netzwerken eine neue Dimension erreicht. In Windeseile strömen Aufmerksamkeit erregende Informationen durch das World Wide Web.

Im Jahr 2008 hat jemand auf einer Seite von CNN, auf der Leser Neuigkeiten veröffentlichen können, behauptet, dass Steve Jobs einen Herzinfarkt erlitten habe. Die Falschmeldung hat sich bei Twitter rasant weiterbreitet. Bis Apple und CNN das Gerücht dementiert haben, war der Kurs innerhalb einer halben Stunde bereits um fünf Prozent gefallen. Offensichtlich hatte diejenige Person versucht, den Kurs zu manipulieren, um am fallenden Preis der Aktie zu verdienen. Dem Schwindler, der sich solcher Methoden bedient, bietet die relative Anonymität des Internets einen gewissen Schutz davor, ausfindig gemacht zu werden. Die Möglichkeit wie bei Ad-Hoc-Meldungen durch eine Aufsichtsbehörde kontrolliert zu werden, fällt natürlich weg.

Falschinformationen in sozialen Netzwerken müssen jedoch nicht unbedingt mit Absicht lanciert sein. Ebenfalls 2008 ist beispielshalber ein US-amerikanisches Investor-Relations-Unternehmen bei einer routinemäßigen Google-Suche auf die Meldung gestoßen, dass die Linienfluggesellschaft United Airlines Konkurs anmelde. Dass es sich dabei um eine Nachricht handelt, die zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Jahre alt war, haben sie übersehen. Die Information wurde versehentlich als Eilmeldung deklariert und von der Nachrichtenagentur Bloomberg als solche übernommen. Der Kurs ist danach innerhalb von zehn Minuten um 70 Prozent abgestürzt. Zahlreiche weitere Beispiele haben gezeigt, dass Social-Media-Plattformen in solchen Fällen wie ein verstärkender Turbo wirken.

Auffällig ist, dass Social-Media-Experten häufig die „Selbstregulierungsfähigkeiten“ hervorheben und damit die Maxime der Schwarmintelligenz bzw. der kollektiven Massenintelligenz verfechten. Sie vertrauen darauf, dass bei Manipulationsversuchen Gegenkräfte wirken, und das verzerrte Bild wieder zurechtgerückt wird. Meistens pendeln sich die Kurse auch wirklich wieder ein. Doch ist damit nicht dem Ziel gedient, potenzielle Betrüger aufzuhalten, die in der kurzen Zeit, in der die Falschmeldungen für heftige Kursbewegungen sorgen, ihren Gewinn ergaunern.

 

Fazit

Die Vorgehensweise Social-Media-Daten im Rahmen einer Börsenprognose auszuwerten, bietet eine Menge interessanter Ausgangspunkte für innovative Analyse-Methoden. Da bei Social-Media-Analysen jeweils viele unterschiedliche Ansätze verwendet werden, können sie jedoch nicht alle in einen Topf geworfen werden. Wenn eine Vorgehensweise erfolgreich ist, muss das nicht bedeuten, dass dies für alle gilt. Einige Herangehensweisen scheinen durchaus vielversprechend zu sein; insbesondere in Verbindung mit der so genannten Contrarian-Strategie, bei der antizyklisch agiert wird. Dabei lautet das Motto: Gegen den Strom investieren! Wenn viele positive Nachrichten vorherrschen, wird das als Grund gesehen, auf fallende Kurse zu setzen. Analog werden steigende Kurse erwartet, wenn negative Börsenmeldungen überwiegen.

Mit Sozialen Netzwerken werden oft positive Charakteristika verbunden. Neben der kollektiven Massenintelligenz, die angeblich (bzw. möglicherweise) für eine ausgewogene Informations-Basis sorgt, wird auch eine Ungebundenheit in der Meinungsbildung gegenüber den Mainstream-Medien gesehen. Wenn dieses Unabhängigkeitsgefühl, das beim Aktivwerden und im Austausch mit meist Gleichgesinnten aufkommt, zu stark ist, kann dies wiederum zur verzerrten Informationswahrnehmung führen. Die ursprünglichen Informationen sind meist aus den gleichen Quellen, derer sich auch die Massenmedien bedienen; eine große Stärke kann in den wechselvollen Interpretationen der jeweiligen Teilnehmer liegen. Zudem werden in Zusammenhang mit sozialen Netzwerken häufig auch Transparenz und Demokratie postuliert. So reizvoll diese Gedanken auch sein mögen, wäre es naturgemäß naiv, Informationen in sozialen Netzwerken nicht skeptisch zu hinterfragen. Denn ein blindes Vertrauen, aufgrund übertrieben idealistischer Sichtweisen, kann den Anleger teuer zu stehen kommen. Gefakte Meldungen zu veröffentlichen, ist bekanntermaßen verhältnismäßig leicht und kann in schnellem Tempo beträchtlichen Schaden anrichten.

Social-Media-Analysen bergen ein hohes Potenzial in sich. Doch um auch lange davon profitieren zu können, ist es angebracht, sich um eine rationale Sichtweise bzw. eine bewusst kritische Distanz zu dem Thema zu bemühen. Eventuelle Gefahren, in die Falle von Falschinformationen zu tappen, sind gegeben und nicht zu unterschätzen. Social Media ein wichtiger Teil der heutigen Medienwelt, weshalb ihre Berücksichtigung im Analyse-Prozess schlichtweg angebracht und zeitgemäß ist.

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