Am Freitag wurde die Stadt Sarandsch (an der iranischen Grenze) erobert, dann Laschkar Gah (im Süden) und Scheberghan (im Norden) was die geographische Ausdehnung des Vormarsches der Taliban demonstriert. Die Taliban dringen in Regionen vor, in der keine Paschtunen leben, denn über 90 Prozent der Taliban gehören der Volksgruppe der Paschtunen an, die überwiegen im Süden Afghanistans ansässig sind. Dazu auch mein Interview mit Achmed Rashid, dem größten Taliban-Experten weltweit, aus dem Jahr 2010.

Auflösungserscheinungen bei der afghanischen Armee

Jetzt ist auch noch Kundus gefallen, die fünftgrößte Stadt Afghanistans. Kundus gilt wegen der Nähe zu Tadschikistan und Usbekistan als wichtiges Tor zum Handel mit zentralasiatischen Nachbarn. Darunter fallen auch Drogengeschäfte, die den Taliban – und afghanischen Warlords – Geld generieren. Es ist daher anzunehmen, dass die afghanische Armee - falls diese noch dazu in der Lage ist - die Stadt zurückerobern will.

Die Regierungsvertreter waren während der Offensive früh am Sonntag in eine Armeebasis im Umkreis der Stadt geflohen. Diese Basis und der Flughafen waren bis Sonntagnachmittag auch die einzigen strategischen Punkte von Kundus, welche sich noch in der Hand der Regierung befanden. Was die Ausgangslage der Regierungstruppen belastet, ist die Tatsache, dass die Versorgung der Armee zusammengebrochen ist. Schon ist von Hunger die Rede, der unter den Soldaten grassieren soll.

Die USA und die Taliban – eine längere Geschichte…

Die USA haben sich nach ihrer Flucht aus Afghanistan auf eine Verstärkung des Luftkrieges fokussiert, als hätte man in Washington nichts aus dem Desaster der letzten 20 Jahre - nicht nur in Afghanistan – gelernt. Man ignoriert weiter die Tatsache, dass selbst im 21. Jahrhundert die Infanterie immer noch die Königin des Schlachtfeldes bleibt, wie es Peter Scholl-Latour einst ausgedrückt hat.

Auf jeden Fall hat der massive Einsatz von Drohnen in Afghanistan die Taliban nicht besiegt, dafür unzählige Zivilisten das Leben gekostet. Früher oder später wird man in Washington mit den Taliban wieder Verhandlungen aufnehmen müssen, was bereits unter Bidens Vorgänger Donald Trump begann, als die USA mit den Taliban einen Deal erarbeitet hatten, welcher den Truppenabzug im Gegenzug für die Zusicherungen vorsah, internationale Terroristen nicht im Land operieren zu lassen und eine Lösung im Bürgerkrieg zu suchen.

Was immer man sich unter dieser schwammigen Formulierung vorstellen mag, so sei daran erinnert, dass die USA und die Taliban schon Mitte der 1990er Jahre intensive Gespräche führten. Der ehemalige CIA-Agent Robert Baer schreibt dazu in seinem lesenswerten Buch Die Saudi-Connection:

"Das State Departement verschloss nicht nur die Augen vor der radikal-islamischen Außenpolitik, die Saudi-Arabien betrieb - gelegentlich leistete es dieser Politik sogar noch Vorschub. Es wusste, dass der Plan der Saudis, Erdgas- und Erdöl-Pipelines von Zentralasien bis nach Pakistan quer durch Afghanistan hindurch zu führen, den Taliban dabei helfen würde, an der Macht zu bleiben - und auf diese Weise zugleich dafür zu sorgen, dass Osama Bin Laden ein sicheres Schlupfloch behielt. Trotzdem ermunterte es sogar noch die amerikanische Gesellschaft United Oil of California(UNOCAL) sich daran zu beteiligen."

Soweit Robert Baer über seine Erfahrungen in den 1990erJahren.

Vieles deutet daraufhin, dass die USA zukünftig immer weniger in der Region zu bestellen haben, denn aktuell verstärken Moskau und Peking ihre Aktivitäten in Zentralasien, um dem Vormarsch in der Region zu begegnen.

In den ersten Jahren der Besatzung operierten US-Truppen auch von Militärbasen in Usbekistan und in Kirgistan aus; die Bundeswehr nutzte jahrelang den Stützpunkt im usbekischen Termiz. Das ist Geschichte. In Termiz halten inzwischen russische und usbekische Truppen gemeinsame Manöver ab. Von ihrer kirgisischen Basis sind russische Militärs zu gemeinsamen Übungen in Tadschikistan aufgebrochen. Äußere Abwehr gegen die Taliban liegt heute nicht mehr in westlicher, sondern in russischer Hand.“ schrieb diesbezüglich heute Jörg Kronauer.

Militärmanöver in Zentralasien

Unter Beteiligung Russlands hat kürzlich in Zentralasien an der Grenze zu Afghanistan eine trilaterale Militärübung begonnen. Aufgrund des Vormarschs der Taliban planen Russland und die Ex-Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan ihre militärische Zusammenarbeit auszubauen. Das Manöver mit mehr als 2.500 Soldaten begann nach Angaben der russischen Agentur Interfax auf einem Trainingsgelände in der tadschikischen Region Chatlon mit einer Militärzeremonie. Moskau lässt 1.800 Soldaten an der Übung teilnehmen. Trainiert werden unter anderem die Abwehr und Infiltration von aus dem Ausland eindringenden Terroristen.

In Moskau wird der Vorstoß der Taliban mit großer Sorge zur Kenntnis genommen. Es war in Tadschikistan, damals noch eine Sowjetrepublik, wo 1989 der letzte Sowjetsoldat aus Afghanistan kommend eintraf, zehn Jahre nach dem Einmarsch der Roten Armee. Einige Monate später fiel die Mauer in Berlin, zwei Jahre später zerbrach das Sowjetimperium. Die USA hatten die Erfahrungen der Russen in Afghanistan konsequent ignoriert als 2001 der Einmarsch in Afghanistan begann. Dabei bezeichnet man Afghanistan schon seit langer Zeit als den "Friedhof der Imperien. "

„Was bedeutet das konkret für mich!?"

Angesichts der Tragödie in Afghanistan, die einem neuen dramatischen Höhepunkt entgegenstrebt, sollte sich jeder Bundesbürger die Frage stellen, was denn der Einsatz der Bundeswehr den Menschen vor Ort gebracht hat. Erscheint es moralisch gerechtfertigt, Afghanistan immer noch als sicheres Herkunftsland zu bezeichnen und erscheint es - angesichts der strategischen Fehlentwicklungen, Verstrickungen und Überdehnungen des Westens in den letzten Jahren und Jahrzehnten – zudem weiter gerechtfertigt, unter dem Oberbefehl Washingtons deutsche Truppen in aller Welt aufzumarschieren lassen, wie aktuell die Marine im Pazifik? In Kürze finden wieder Wahlen zum deutschen Bundestag statt, was die Möglichkeit bietet, diese Fragen durch eine kluge Wahl zu beantworten.

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