Weshalb war das Kapitol trotz aller Warnungen so ungesichert?

Was keiner feindlichen Macht gelang, seit die Briten 1813 das Gebäude im britisch-amerikanischen Krieg in Brand steckten, weder Nazis, Kommunisten noch Islamisten, gelang zahlreichen Demonstranten aus dem eigenen Land, aus Regionen der USA welche die Macht-Eliten lange Zeit ignorieren konnten, über die sie hinwegsahen, die Erstürmung dieses architektonischen Symbols der amerikanischen Demokratie.

Donald Trumps Rolle in diesem traurigen Spektakel ist äußert fragwürdig, der noch amtierende US-Präsident hat in den Augen vieler eine Grenze überschritten, die weder für ihn persönlich folgenlos bleiben wird, noch für sein politisches Vermächtnis.

Fragwürdig bleibt aber auch, weshalb das Kapitol trotz aller Warnungen so ungesichert war, dass ein Mob eindringen konnte, vor allem, wenn man bedenkt, wie schnell US-Sicherheitsorgane den Finger ansonsten am Abzug haben, bei ordinären Verkehrskontrollen beispielsweise.

Das Zeitalter der Wut

Die Supermacht ist angeschlagen, wird von innenpolitischen Spannungen heimgesucht, die ihren Höhepunkt noch nicht überschritten haben, sondern diesem erst entgegengehen.

Rund 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, aus dem die USA als strahlender Sieger hervorgingen, als uneingeschränkte Weltmacht, ja als „Neues Rom“, wie pathetische Politologen es damals formulierten, gleichen die USA eher der ausgehenden römischen Republik, die flankiert von einer militärischen Überdehnung und an ihren inneren Widersprüchen langfristig zu Grunde ging. Die Lunte, welche gestern in Washington D.C. zur Explosion kam, brannte schon lange.

Die Warnung eines späteren Massenmörders

Im Jahr 1992 erschien ein Artikel in einer amerikanischen Kleinstadtzeitung, verfasst von einem jungen Mann, der als Veteran im ersten Golfkrieg teilgenommen hatte, also zu einer Zeit, als die USA sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihrer globalen Ausstrahlungskraft befanden. In dem Artikel heißt es:

Der Rassismus auf dem Vormarsch? Ganz sicher. Ist das das Ventil für die Frustration Amerikas? Ist die Frustration berechtigt? Wer ist schuld an dem Chaos? An einem Punkt, an dem die Welt erlebt, dass der Kommunismus als ein unvollkommenes System der Organisation von Menschen strauchelt, scheint auch die Demokratie denselben Weg zu gehen. Niemand sieht das große Bild.

Timothy McVeigh war der Name des Autors, der einige Jahre später, genauer am 19. April 1995, in Oklahoma City mit einem Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building 168 Amerikaner ermordete.

Am Puls Amerikas

McVeigh stammte aus einem Milieu, welches sich den Lebenswelten vieler der Demonstranten gestern in Washington ähnelt. Amerikaner aus den Regionen, die Hillary Clinton einst als „Fly Over States“ verhöhnte, also Staaten die man überfliegt, auf dem Weg von Küste zu Küste.

Regionen, abgehängt von den boomenden urbanen Hotspots, bewohnt von Menschen die sich auf ihre früheren Privilegien, aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer manuellen Fähigkeiten nicht mehr verlassen können, deren Qualifikationen nicht mehr viel zählen, wobei ihnen immer noch suggeriert wird, im besten Land der Welt, bzw. den amerikanischen Traum zu leben, bei stetig sinkendem Lebensstandard.

Im Sommer vor drei Jahren reiste ich in diese Region, weit entfernt von den touristischen Zentren der USA und recherchierte zwischen Cleveland Ohio und Detroit Michigan, in dem sogenannten Rust-Belt, dem Rostgürtel Amerikas, dort wo Trump seine höchsten Wahlergebnisse ein Jahr zuvor erlangen konnte.

Damals, im Gespräch mit den sogenannten einfachen Leuten, bekam ich ein Gespür für die tiefe Spaltung welche die USA zerreißen und auch in anderen Staaten des Westens für Spannungen sorgen.

Die Globalisierung - mit ihren Merkmalen des hoch mobilen Kapitals, der beschleunigten Kommunikation und der raschen Mobilisierung - hat überall zu einer Schwächung älterer Regierungsformen geführt, in den sozialen Demokratien Europas ebenso, wie in arabischen Despotien.

Fukuyamas Erkenntnisse

Die Thesen vom „Ende der Geschichte“, die lange Zeit die Hirne der westlichen Meinungsführer und Entscheidungsträger vernebelten, haben sich längst im Dunst der Geschichte aufgelöst. Ihr Verfasser, der amerikanische Politologe Francis Fukuyama hatte sich schon vor langer Zeit von seinen damaligen Thesen distanziert. In seinem aktuellen Werk “Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ ist ihm eine realistische Analyse von beklemmender Aktualität gelungen.

„Was heißt das für mich konkret!?“

Die westlichen Staatsoberhäupter reagieren auf die Blutnacht von Washington D.C. wie gläubige Katholiken, die in den Nachrichten verfolgen wie im Vatikan eine Drogenzelle ausgehoben wird - mit Fassungslosigkeit.

Die Ereignisse passen nicht in das Narrativ der NATO-Staaten, welches bei genauem Hinsehen schon lange nicht mehr zutrifft, wonach die USA die führende Demokratie und Wächter der globalen Menschenrechte sind. Wahrscheinlich ist man sich in London, Paris und Berlin nur zu bewusst, wie schnell die Ereignisse in Washington auch in europäischen Hauptstädten eine Nachahmung finden können.

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