Erinnern wir uns daran, dass die Ära Bush mit einer massiven Verstaatlichung der Banken, mit ungelösten militärischen Konflikten und einem gescheiterten “War against Terror” beendet wurde - was sicherlich die Frage aufwarf, wie der Ex-Präsident diesen Fingerzeig Gottes interpretierte, dem er sich angeblich verpflichtet fühlte bzw. dessen Bewegungen er zu folgen gedachte? 

Einst das größte katholische Land der Welt

In Brasilien, einst das größte katholische Land der Welt, hat sich ein markanter Machtwechsel vollzogen.

Bis auf eine Ausnahme, als der General Ernesto Geisel zur Zeit der Militärdiktatur 1974-1997 dem Land vorstand, waren alle Staatsoberhäupter des Giganten Südamerikas bisher Katholiken. Es ist daher auch nicht als Zufall zu betrachten, dass der neue evangelikale Präsident Jair Messias Bolsonaro seine Bewunderung für die Militärdiktatur, die erst 1985 enden sollte, zum Ausdruck brachte.

Bolsonaros Wahlsieg - er selbst ließ sich erst 2006 von einem evangelikalen Pastor im Jordan taufen - wurde getragen von der explosiven Ausbreitung dieser Glaubensrichtung, nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika. Der Verfasser dieses Beitrages konnte sich im letzten Jahr in Ecuador davon vor Ort überzeugen.

Anwachsen der evangelikalen Bevölkerung

Die evangelikalen Kirchen erleben seit Jahrzehnten rasanten Zulauf in Brasilien. Beim Zensus 2010 bekannten sich über 40 Millionen Brasilianer (22 Prozent) zu ihrem christlich-evangelikalen Glauben. Als katholisch bezeichneten sich 123 Millionen Brasilianer (64 Prozent). Derzeit liegt die Zahl der "evangélicos" bei rund 30 Prozent, schätzen Experten.

Von den 513 Abgeordneten des brasilianischen Parlaments gehören rund 100 der im Jahre 2003 gegründeten "bancada evangélica" an, wie der parteiübergreifende Zusammenschluss evangelikaler Politiker in Brasilien genannt wird. Im Senat sind fünf der insgesamt 81 Senatoren evangelikal. Diese Ausbreitung geht auf die Missionierung zurück, die evangelikale Gemeinden im Mutterland dieser Glaubensrichtung, in den USA, konzipieren, organisieren - und vor allem finanzieren.

Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass der Begriff “Fundamentalismus“ ursprünglich aus dem Milieu der Evangelikalen stammt, nämlich basierend auf der buchstabengetreuen Auslegung gewisser Passagen der Bibel und des Neuen Testaments.

Hinter dieser massiven Missionierung stehen natürlich handfeste politische Interessen. Die häufig in der Tradition der Befreiungstheologie agierende katholische Kirche, also in einem linken, auf sozialchristlichen Lehren ruhenden Weltbild, steht den Interessen Washingtons in seinem Hinterhof - wie man dort Südamerika früher zu nennen pflegte - im Weg. Mit Hilfe evangelikaler Indoktrination wird dieses Hindernis aus dem Weg geräumt.  

Lichtblick Lula

Um dieses Ausmaß zu erfassen, ist ein Blick zurück in die jüngste Zeitgeschichte Brasiliens erforderlich.

In Brasilien trat 2003 ein grundlegender politischer Wandel ein, als Luiz Inácio Lula da Silva in der futuristischen Hauptstadt Brasilia seine Präsidentschaft begann. Dieser bärtige, wohlwollend blickende Mann aus dem Volk, der als historischer Führer der brasilianischen Linken galt, betonte seine totale Unabhängigkeit von den USA. Bei den „Yankee-Gegnern“ des Subkontinents fand er bereitwillige Verbündete und Sympathisanten.

Lula hatte dem Riesen Brasilien von 2003 bis 2011 einen beispiellosen Wirtschaftsboom beschert. Die Zahl der Armen halbierte sich. Doch 2012 ging der Aufschwung schlagartig zu Ende. Brasilien rutschte in die Rezession ab; Arbeitslosigkeit und die ohnehin hohe Kriminalität stiegen rasant. Lulas Nachfolgerin, Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei, scheiterte an den immensen Problemen.

Durch den Petrobras-Korruptionsskandal sowie die Odebrecht-Schmiergeldaffäre wuchs die Wut der Brasilianer auf ihre Regierung, also auf die Arbeiterpartei. Rousseff wurde gestürzt. Lula da Silva wurde mit fadenscheinigen Argumenten aus dem Verkehr gezogen und verbüßt heute eine Haftstrafe.

Evangelikale - die Salafisten des Christentums?

Der katholische Pfarrer Wolfgang Beck (Hannover) ging sogar soweit, über die Evangelikalen Folgendes zu behaupten:

„Egal, ob Piusbrüder, ob evangelikale Gruppierungen oder muslimische Salafisten, denen wir in diesen Wochen in den Fußgängerzonen begegnen können: Sie alle haben mehr gemeinsam, als ihnen wahrscheinlich lieb ist. Vor allem dieses Bemühen um größtmögliche Eindeutigkeit. Alle Kraft wird da hinein gesetzt, dass das Leben völlig übereinstimmt mit dem, was gepredigt wird.“

Unabhängig davon, wie man diesen Vergleich bewerten möchte, so ist doch auffällig - die Beziehungen zwischen Washington und Riad verdeutlichen dieses - dass die Anbetung des Geldes, ja des Kapitalismus‘ sowohl Evangelikale wie auch Salafisten auszeichnet.

Brasilien - ein Land von Morgen

In Brasilien ist man nicht nur in der „Neuen Welt“ angekommen, dort begegnet man einer neuen Menschheit - und die Vermutung stellt sich ein, dieses könnte die Menschheit der Zukunft sein. Mit seiner vielfältigen Harmonie der Bevölkerungsgruppen nimmt Brasilien eine ethnische Mischung vorweg, die für den ganzen Globus Gültigkeit gewinnen könnte. Als ein „Land von Morgen“ hat es Stefan Zweig einst liebevoll bezeichnet. Mit der Wahl des neuen Präsidenten ist Brasilien wieder einmal eher ein Land von Übermorgen.
 
 

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