Für das Unglück machen die Griechen alle bisherigen Regierungen verantwortlich, wobei die aktuelle Regierung am schärfsten verurteilt wird. Derweil wird der neue Verkehrsminister des Landes nicht vereidigt. Denn ein naher Verwandter von ihm ist in der Unternehmensführung eines im Bau von Verkehrswegen aktiven großen Unternehmens.

Ein politisches Beben

Seit dem Zugunglück vom 28. Februar 2023 ist in Griechenland nichts mehr wie vorher. Mindestens 57 Tote, zahlreiche Verletzte und zwei frontal zusammengestoßene Züge bei Tempi im Norden des Landes sind jedoch nur der Auslöser und nicht der alleinige Anlass dafür, dass an mehreren Tagen der vergangenen Wochen überall im Land bei Demonstrationen der Ruf, „ihre Profite, unser Tod“ zu hören war.

Fast täglich sind Zehntausende auf den Straßen. Die Arbeitnehmer im gesamten Land haben in den letzten zehn Tagen schon mehrfach gestreikt. Der nächste Generalstreik ist am 16. März. Verlangt werden nicht höhere Löhne, sondern Sicherheit im Alltag und ÖPVN, Strafen für die verantwortlichen Politiker und ein Ende des Kaputtsparens in Kombination mit Geldverschwendung auf anderen Gebieten.

Den chronisch unterbesetzten Diensten in Medizin, Verkehr und Bildung stehen tausende neu rekrutierte Polizisten, sowie milliardenschwere Rüstungsprogramme gegenüber.

In Fußball- und Basketballstadien, in denen die „keine Politik im Sport“-Regel bislang strikt ausgelegt wurde, prangen große Banner, in denen die Regierung beschimpft wird. Organisierte Fans schreien im Chor Parolen, in denen Mitsotakis und seiner Regierung Mord vorgeworfen wird.

Die Kollegen im staatlichen Rundfunk ERT sind nicht zu beneiden. Müssen sie doch vermeiden, die Banner in den Live-Übertragungen und Sportberichten zu zeigen. Es sind Eindrücke, wie es sie zuletzt bei den großen Demonstrationen gegen den Sparkurs 2010, 2011 und 2015 gab. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied. Bei den aktuellen Demonstrationen sind alle Generationen und alle sozialen Schichten vertreten. Krawallmacher, die nach der Staatspleite jede große Demonstration durch Ausschreitungen in Gefahr brachten, haben es bei den spürbar besser organisierten Demonstrationen schwerer.

Wer kommt für den Schaden auf?

Damit reißt die Liste der Hiobsbotschaften für die Regierung nicht ab. Die Züge im Land dürfen bis auf Weiteres nicht mehr fahren. Sie werden, wenn sie wieder rollen, mit erheblich geringerer Geschwindigkeit als vorher verkehren. Die wirtschaftlichen Folgen des Stillstands sind noch nicht abzusehen.

Die Betriebsgesellschaft Hellenic Train, eine Tochter der italienischen Staatsbahnen, könnte durchaus eine Entschädigung verlangen. Bei der von den Kreditgebern verlangten „Privatisierung“ wurde an die Hellenic Train die Lizenz zum Schienenverkehr übertragen. Die Verantwortung für das Schienennetz verblieb bei zwei staatlichen Firmen, der ErgOSE und der OSE. Diese wiederum waren von der „Verschlankung“ des öffentlichen Dienstes betroffen.

Es ist bezeichnend, dass neben dem nachweislich unzureichend ausgebildeten Fahrdienstleiter, der am 28. Februar den Personenzug aufs falsche Gleis schickte, auch sein Vorgesetzter und ein weiterer Fahrdienstleiter in U-Haft genommen wurden. Der Vorgesetzte wird für die Entscheidung, dem Ungeeigneten die Verantwortung übertragen zu haben, zur Verantwortung gezogen. Es wird zudem untersucht, wie ein Kofferträger, der wegen der Reform der „Flexibilität im Öffentlichen Dienst“ ein Jahrzehnt lang Schulbücher transportierte, mit 59 auf einen derart kritischen Posten versetzt wurde. Hier wird nach den Politikern gesucht, die dem Neunundfünfzigjährigen ein „Rousfeti“, einen Gefallen im Gegenzug zur Unterstützung bei der Wiederwahl, zukommen ließen. Der zweite Fahrdienstleiter ist in Haft, weil er nicht mit Überstunden auf den verspäteten Intercity wartete. Ein weiterer Fahrdienstleiter, der vor dem tragischen Unfallverursacher Dienst hatte, kann nicht zur Verantwortung gezogen werden. Denn er ist als selbstständiger Subunternehmer, vulgo Scheinselbstständiger, eingestellt worden. Laut Vertrag darf er keine Minute länger bleiben und seine Arbeitszeit nicht überziehen.

Die Regierung muss nun für solch surreale Zustände bei den Bahnen Rede und Antwort stehen. Sie muss erklären, warum es im Jahr 2023 kein verlässliches Signalsystem an den Gleisen gibt, und warum ein elektronisches Verkehrsleitsystem seit 2014 im Bau ist und nicht fertig werden kann.

Als Spoiler für die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen ließen Mitarbeiter der Eisenbahnen bereits einen wichtigen Grund dafür durchsickern. Das alte, bis 2010 funktionierende System war personalintensiv, weshalb es dem Verfall überlassen wurde. Was die Planer jedoch übersahen, war, dass es bei der Installation eines neuen Systems im laufenden Betrieb auch Personalbedarf gibt. So hätte der Schienenverkehr in bestimmten Abschnitten einspurig laufen müssen, damit auf der zweiten Spur die Anlage installiert werden könnte. Auch hier fehlte es an Arbeitskräften.

Was nun, wenn die chinesische COSCO, ebenso wie weitere exportierende Unternehmen auf die Idee kommt, vom Staat Entschädigungen zu fordern? Denn auch die COSCO nutzt die griechischen Schienen, um vom Knotenpunkt des ihr gehörenden Hafens von Piräus Güter nach Nordeuropa zu schicken. Die Bahngesellschaft der COSCO, die PEARL (Piraeus Europe Asia Logistics) wurde noch im September 2022 von der Regierung als wichtige Investition gefeiert. Die Schiene verkürzt die Transportzeit von Containern von Piräus nach Rotterdam um sieben Tage. Eine große Zeitersparnis in Zeiten problematischer Lieferketten für leicht verderbliche, oder dringend benötigte Ware.

Der mittlerweile zurückgetretene griechische Verkehrsminister Kostas Karamanlis versprach:

  • Die OSE – als Infrastrukturbetreiber – übernimmt das Management der Eisenbahninfrastruktur und alle Arbeiten, die für den Betrieb des Eisenbahnnetzes erforderlich sind.

  • Die ERGOSE wird sich als Projektmanager auf die Durchführung neuer Eisenbahninfrastrukturprojekte außerhalb des Betriebsnetzes konzentrieren, wie z. B. neue Strecken und Erweiterungen des bestehenden Netzes.

  • Die ERGOSE wird auch Modernisierungsarbeiten am bestehenden Netz durchführen, die eine Unterbrechung des Betriebs der Leitung erfordern (z. B. Untertagebau der Leitung), aber die Verantwortung für die Leitung verbleibt bei der OSE.

Direkt nach dem Unglück trat er zurück. Sein Amt wurde an den Minister ohne Geschäftsbereich Giorgos Gerapetritis übertragen. Dieser wird aus den oben genannten Gründen nicht vereidigt, und hat als einzige Aufgabe die Aufklärung der Umstände des Unfalls. Damit kann er der COSCO, die ihre Züge von Piräus nach Nordeuropa von knapp zwei pro Tag auf mehr als verdoppeln wollte, derzeit kaum helfen.

Nun wird alles überprüft

Jetzt, nach dem Unglück, hören die Medien plötzlich die Warnungen von Beschäftigten und die Klagen der Bürger. So wurde in Chalkida die berufsbildende Schule für Fachabiturienten in spe geschlossen. Hier sind Türstürze zerbrochen, Decken drohen einzustürzen. Nicht vorstellbar, wie es nach einem Erdbeben in der Schule aussehen würde. Allerdings bestehen die Mängel seit Jahren.

Die große Autobahnbrücke bei Kozani wurde am Montag für Fahrzeuge mit einem Gewicht von mehr als 3,5 Tonnen gesperrt. Die Hauptverkehrsader der Region war seit 1995 nicht mehr gewartet worden. Die massiven Schäden und die akute Einsturzgefahr war der Regierung jedoch schon seit einer Überprüfung 2020 bekannt. Das 1,37 km lange Bauwerk wurde ab 1973 gebaut und 1976 eingeweiht. Ein Stahlträger ist defekt, sodass die Brücke buchstäblich in Wellen über einen Fluss führt. Nun soll sie, so plant die Regierung, mit 152.000 Euro eilig repariert werden. Fachleute zweifeln an der Ernsthaftigkeit der veranschlagten Summe, sie erwarten erheblich höhere Kosten. Kosten kommen auch auf die Wirtschaft rund um Kozani zu. Denn die üblichen Lieferketten werden durch die massive Verkehrseinschränkung gestört.

Die Medien im Land hatten während der Regierungszeit von Mitsotakis weitgehend positiv über dessen tatsächliche und vermeintliche Erfolge berichtet. Kritische Beiträge gab es kaum. Nach dem Zugunglück ist der öffentliche Druck jedoch so groß, dass akute Sicherheitsprobleme nun an die Öffentlichkeit gelangen.

Parallel zur Regierungskommission ermittelt die Justiz im Eiltempo. Das oberste Strafgericht, der Areopag und die Finanzstaatsanwaltschaft durchleuchten sämtliche Vorgänge rund um Eisenbahnen und Verkehrssicherheit der letzten fünfzehn Jahre. Und sie werden fündig, wie durchgesickertes Fahndungsmaterial zeigt. Die Hauptnachrichtensendungen widmen den überwiegenden Großteil ihrer Sendezeit auf die Präsentation drastischer Missstände, die den Fahndern ins Auge stoßen. Der Krieg in der Ukraine, Inflation oder gar CoVid sind nur noch Randthemen in griechischen Medien.

Wahlen werden verschoben

Gerapetritis muss schnell liefern und, wenn es nach Premier Kyriakos Mitsotakis geht, belegen, dass alle Schuld am Unglück haben. Nur so hat er eine Chance, Wähler zurückzugewinnen. Sein Narrativ war, dass er es als Manager geschafft habe, Griechenland in einen funktionierenden Staat mit Bürgernähe zu verwandeln. „Keine Rückkehr zum Gestern“, ist ein Motto, mit dem er zu den kommenden Wahlen antritt. Das alles liegt nun in Scherben.

Die Nea Dimokratia sackte in Umfragen um bis zu fünf Prozent ab. Sie fällt unter die psychologisch wichtige dreißig Prozent Marke und hat nur noch weniger als vier Prozent Abstand zur größten Oppositionspartei SYRIZA. Eigentlich hatte Mitsotakis, der im Juli 2019 das Amt antrat, vor, am 9. April wählen zu lassen.

Die „ersten Wahlen“, so erklärte es Mitsotakis bei jeder Gelegenheit. Eine Besonderheit der griechischen Verfassung bedingt, dass Wahlgesetze, wenn sie nicht mit Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossen werden, erst für übernächste Wahlen gelten. Die nächste Parlamentswahl findet gemäß dem von SYRIZA beschlossenen Wahlrecht mit einem reinen Verhältniswahlrecht und einer drei Prozent Sperrklausel statt.

Mitsotakis sieht im Verhältniswahlreicht „eine Bombe für die Demokratie“. Er findet, dass er allein und ohne Koalitionspartner regieren müsse. Woraufhin er erneut ein Bonuswahlsystem einführte, bei dem die stimmstärkste Partei mit einem Ergebnis der Größenordnung von 35 Prozent die absolute Mehrheit im Parlament erhält. Mitsotakis setzte darauf Koalitionsverhandlungen platzen zu lassen, zumal es in Umfragen keine realistischen Szenarien für eine Regierungskoalition gegen die Nea Dimokratia gab.

Auch SYRIZA büßt 0,5 Prozent ein, denn die Demonstranten machen die Privatisierungen, wie bei den Eisenbahnen, sowie die massiven Entlassungen in sicherheitsrelevanten Bereichen des öffentlichen Dienstes für die Katastrophe verantwortlich. Bei der sozialdemokratischen PASOK, die 2010 unter Giorgos Papandreou den Gang zum IWF antrat, bewegen sich die Verluste auf ähnlichem Niveau, wie bei SYRIZA. In den Umfragen profitieren deshalb aktuell die Kommunistische Partei, Varoufakis Bewegung MeRA25 und die Zahl der Unentschlossenen.

Mitsotakis bekommt nun, nachdem über vier Jahre Skandale wie die Abhöraffäre, die Bereicherung von Politikern seiner Partei, korruptionsverdächtige Direktvergaben und nicht zuletzt ein katastrophales Gesundheitsmanagement während der Pandemie wie an Teflon an ihm abperlten, für seine gesamte Politik die Quittung. Er versucht, mit Geldgeschenken, Steuerschuldenerlass und versprochenen Posten im öffentlichen Dienst, die verletzten Opfer und die Angehörigen der Toten zu besänftigen. Und er sucht nach einem Wahltermin, der möglichst spät terminiert werden soll. Es gibt sogar Überlegungen, die Legislatur, die eigentlich Anfang Juli endet, mit einem Verfassungstrick, um einen Monat zu überziehen.

„Was heißt das konkret für mich!?“

Die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Zugunglücks bei Tempi bedrohen die Wiederwahl von Premierminister Kyriakos Mitsotakis. Alles deutet auf eine Zeitenwende in Griechenland hin. Nur, wohin es gehen wird, das ist noch nicht erkennbar.

Es gibt zudem unverkennbare Parallelen zu Deutschland, was ebenfalls - vor allem in NRW, dem Land der kaputten Brücken und der Schlaglöcher - systematisch kaputtgespart wurde. Zudem hat die Bundesbahn vielleicht nicht so schlimme Probleme wie die total maroden griechischen Bahnen. Aber „zuverlässig wie die Eisenbahn“ ist sie nimmer.

Beitrag senden

Drucken mit Kommentaren?



href="javascript:print();"