Drei Umschläge für einen Regierungschef

Vor einigen Monaten hatte der frühere Premier Alexis Tsipras seinem Nachfolger während einer Parlamentssitzung eine Anekdote mit auf den Weg gegeben. Tsipras meinte, dass jeder Premier beim Amtsantritt drei verschlossene Umschläge seines Vorgängers finden würde. Diese seien bei Krisen nacheinander zu öffnen. Im ersten Umschlag würde stehen, „schieb die Schuld auf die Vorgängerregierung“. Der zweite Umschlag enthält laut Tsipras den Tipp, die Schuld für ein Desaster auf Minister abzuwälzen. Schließlich stehe im dritten Umschlag die Nachricht, „bereite nun selbst drei Umschläge vor“. Damals, im November 2020, antwortete Mitsotakis,

ich habe im Amtssitz keine drei Umschläge gefunden. Ich fand noch nicht einmal einen Internetrouter“.

Seinerzeit war nicht klar, ob die Antwort naiv und ernst gemeint war, wie es die Opposition gern darstellen würde, oder ob der Premier seinerseits den Vorgänger ironisch auf die Schippe nehmen wollte.

Schlechte Vorbereitung – naive Fragen

Am Wochenende gab es gleich zwei Vorfälle, welche den Premier intellektuell in ein schlechtes Licht rückten. Wohlwollend betrachtet, zeigen beide Vorfälle, dass die Mitarbeiter des Premiers ihre Hausaufgaben beim Briefing offenbar nur oberflächlich gemacht haben. Allerdings vergeht die in Griechenland als „politische Zeit“ bekannte Periode des Wohlwollens in Krisenzeiten in rasendem Tempo.

Mitsotakis war am Samstag nach Korinth gefahren. Dort wollte er die Arbeiten am Kanal persönlich inspizieren. Die Intention eines solchen Auftritts ist klar. Der Regierungschef soll als „Macher“ gezeigt werden, der an allen Ecken des Landes nach dem Rechten schaut. Offensichtlich war der Premier bei diesem Trip vollkommen unvorbereitet auf das, was er da wohl sehen würde. Eigentlich handelt es sich um Allgemeinwissen, das die überwiegende Mehrzahl der Griechen auf Anhieb parat hat.

Der Kanal von Korinth, die künstliche Meeresstraße, welche den Peloponnes vom übrigen Festland abtrennt, ist eine 1893 fertiggestellte und seit der Antike ersehnte Abkürzung für Schiffe, die vom Ionischen Meer in die Ägäis wollen. Sinn des Kanals ist es, die Fahrt um die Halbinsel Peloponnes und damit eine riskante Umfahrung des südlichen Kap Malea zu vermeiden. Eingespart werden können durch Passage des knapp 6,3 km langen Kanals mehr als 300 km Fahrt.

In früheren Zeiten, als die Handelsschiffe noch nicht so seetüchtig waren wie heute, wurden sie im korinthischen Golf aus dem Meer gehoben und über die enge Landzunge, welche den Peloponnes mit dem Festland verbindet, in den saronischen Golf gezogen. Rund um die Landzunge entwickelte sich daher ein blühendes Gewerbe der Bewirtung aber auch der Prostitution.

Aus der Zeit der Fertigstellung des Kanals stammt ein geflügeltes Wort, „das ‚weibliche Geschlechtsorgan‘“ zieht das Schiff. Im Original wird für das Organ der Vulgärausdruck verwendet. Dieses geflügelte Wort thematisierte, dass es eine Reihe der Seeleute trotz des Kanals vorzog, die Landzunge auf dem vorher herkömmlichen Weg zu überqueren. Es müssen nicht nur die Reize der Sexarbeiterinnen gewesen sein, welche diese Entscheidung bestimmten. Denn die Benutzung des Kanals kostet Geld. Eine Maut, welche die Instandhaltung des Kanals, aber auch die Arbeitsplätze der dort Beschäftigten finanziert. Diese sind in Gefahr, denn der Kanal ist wegen eines Erdrutsches seit Mitte Januar und bis auf weiteres geschlossen.

Verkehrstechnisch hat die Wasserstraße nicht mehr die Bedeutung, die ihr einst zuteilwurde. Heuer dürfen nur noch Schiffe bis 17 m Breite durch die an der engsten Stelle knapp 24 m breite Wasserstraße. Jährlich passieren rund 11.000 kleinere Schiffe den Kanal. Es ist also kein Suez-Kanal in klein. Hinsichtlich der EU-Gelder hat der Kanal ebenfalls die Bedeutung verloren. Die griechischen Regierungen hatten in der Anfangszeit versucht, den künstlich vom Festland abgetrennten Peloponnes zur Insel zu erklären und damit die entsprechenden Zuschüsse zu kassieren.

Kurzum, der geschlossene Kanal, eine eindrucksvolle Attraktion, ist ein Verkehrsobjekt mit hoher touristischer und großer lokaler Wichtigkeit für die Wirtschaft. Nicht mehr, und nicht weniger. Die Videoaufnahmen von Mitsotakis Besuch am Kanal zeigen einen Premier, der mitten in der Pandemie ohne Abstandsregeln lokale politische Vertreter um sich sammelt und den Ort inspiziert.

Geduldig lässt sich der Premier erklären, was er sieht und wie die Planung für die Wiederherstellung der Befahrbarkeit aussieht. Er erfährt, dass alles zu einem nicht weiter terminierten Zeitpunkt im nächsten Jahr fertig sein soll. Er stellt Fragen nach Höhe und Tiefe des Kanals und macht dann den entscheidenden Fauxpas. „Wann wird der Kanal geschlossen?“, fragt er allen Ernstes. Der lokale Experte antwortet trocken, „der Kanal ist bereits geschlossen“.

Die Opposition nutzt solch einen Lapsus weidlich aus. Aus dem Videomaterial vom Besuch des Premiers wurde das entsprechende Stück herausgeschnitten und mit einem weiteren Teil der Aufnahmen kombiniert. Das Resultat zeigt einen Premier, der keine Ahnung vom Kanal von Korinth hat und, im dafür extra zurechtgeschnittenen Video, umgehend nach der „dummen Frage“ noch eine weitere folgen lässt. Denn der Premier fragte in Korinth auch nach den Möglichkeiten, die Steilwände für Bungee-Sprünge zu nutzen.

Die Anhänger von SYRIZA nutzen in solchen Momenten gern den Vergleich von Mitsotakis mit Mr. Bean. Der schlaksig und ungelenk auftretende griechische Premier wird über den Vergleich mit der filmischen Kunstfigur von Rowan Atkinson als Mensch - unabhängig von seinen politischen Aussagen - herabgewürdigt. Für eine linke Partei mag dies eine durchaus fragwürdige Taktik sein.

Zur Schau gestellte Tierliebe

Allerdings setzt auch Mitsotakis auf das Menschelnde. Am Wochenende veröffentlichte er auf Instagram eine Fotostory, die ihn als Tierliebhaber zeigt. Mitsotakis hatte einen überaus sympathischen Streuner aus dem Tierasyl von Ilioupolis adoptiert. Dort war er vor zwei Wochen zu Besuch. Die Fotos wurden von der regierungsfreundlichen Presse dankbar aufgenommen und veröffentlicht.

Kann auch dies kritisiert werden? Aber sicher. Einerseits kommen aus der Opposition Stimmen, die darauf verweisen, dass es in einer Pandemie, einer wirtschaftlichen Krise und mitten im Streit mit der Türkei, wichtigere Themen als adoptierte Hunde gibt. Andererseits bekam der Premier eine Breitseite von Tierschutzorganisationen. Denn seine Regierung möchte die privaten Tierschutzinitiativen landesweit verbieten. Künftig sollen sich nur noch die Kommunen um herrenlose, ausgesetzte oder misshandelte Tiere kümmern, so sieht es eine Gesetzesinitiative vor.

Wenn dies im Parlament verabschiedet wird, dann ist eine Adoption, für die sich Mitsotakis nun feiern lässt, aufgrund der aus dem Gesetz resultierenden Illegalität des Tierasyls von Ilioupolis schlicht nicht erlaubt.

Die Diadochen stehen bereit

Im Gegensatz zu Tsipras hat Mitsotakis ein Problem mit seiner eigenen Partei. Tsipras zimmerte sich seine SYRIZA aus der gemeinsamen Wahlliste mehrerer linker Parteien. Mögliche Konkurrenten kegelte er ins Abseits. Mitsotakis hingegen stützt sich als liberalkonservativer Politiker auch auf die nationalkonservativen Parteimitglieder der Nea Dimokratia. Er hat selbst keine ausreichende Hausmacht.

Der feurige verbale Schlagabtausch, den sich der griechische Außenminister Nikos Dendias bei seinem Besuch beim türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu mit seinem „Freund Melvüt“ in der vergangenen Woche lieferte, stärkte Dendias Stand im bereits jetzt mehr oder weniger im Verborgenen geführten Kampf um die Nachfolge.

Dendias konterte die Aussagen seines Amtskollegen in der gemeinsamen Pressekonferenz durchaus schlagfertig, aber am Rand einer offenen Provokation. Hinterher gingen beide gemeinsam Abendessen. Dendias betonte trotz seiner heftigen Verbalattacken, dass er sehr hungrig sei und sich auf das Essen freuen würde.

Beide, der türkische und der griechische Außenminister konnten sich von ihrer jeweils heimischen Presse feiern lassen. In der Sache, im Erdgasstreit in der Ägäis und in der Frage der Flüchtlinge, hat sich durch den verbalen Streit nichts geändert. Es wird - wie immer - auf Kompromisse herauslaufen, die beide ihren Wählern vermitteln müssen. Jedoch hat es zumindest PR-technisch jeder „dem anderen gezeigt“. Kritiker könnten derartige Aktionen als verbalen Hahnenkampf abkanzeln. Für Dendias steht jedoch noch das Feiern der Entschlossenheit und des Mutes auf dem Programm.

Aus dem Megaron Maximou, dem Amtssitz von Mitsotakis kam die Verlautbarung, dass der Außenminister alles nur im „Auftrag und nach Absprache“ mit dem Premier getan habe. Es ist der Versuch der Schadensbegrenzung.

„Was heißt das konkret für mich!?“

Abgesehen vom Schaukampf zwischen Laschet und Söder oder dem Streit in der Linken, bestimmen auch in Griechenland persönliche Angriffe – auch aus den eigenen Reihen - den politischen Dialog. Sachfragen bleiben bei solch einer Taktik natürlich „auf der Strecke“.

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