Der Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan schreitet in diesen Tagen zügig voran. Laut US-Präsident Joe Biden soll der Truppenabzug der Amerikaner am Hindukusch bis zum 31. August komplett abgeschlossen sein.

Nach zwanzig Jahren eines Krieges, in dessen Hinblick sich eine wachsende Anzahl von Beobachtern die Frage zu stellen beginnt, was diese Aktivitäten den Vereinigten Staaten als Nation eigentlich gebracht haben mögen, beginnt sich vielerorts Ernüchterung auszubreiten.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, im Sommer 2006 ein Seminar von Peter Scholl-Latour in Donau-Eschingen besucht zu haben, in dessen Rahmen der deutsch-französische Altmeister für geopolitische Entwicklungen auf Basis eigener Erfahrungen am Hindukusch schon zum damaligen Zeitpunkt ein klägliches Scheitern dieser Mission prognostizierte.

Dem damaligen und inzwischen verstorbenen Verteidigungsminister Peter Struck warf Scholl-Latour in diesem Rahmen nicht nur Kurzsichtigkeit und Hybris vor, sondern gelangte an diesem Abend ferner auch zu dem Fazit, dass der Slogan einer „Verteidigung Deutschlands am Hindukusch“ schon an pure Idiotie grenze.

Wie so oft scheint mit dem anhaltenden Truppenabzug der Amerikaner aus Afghanistan eine ungelesene Fußnote – und somit ein Haken – verbunden zu sein. Denn im amerikanischen Pentagon wird inzwischen offen darüber diskutiert, auf welche Weise sich ein Stützpunkt in der Region beibehalten ließe, um der Illusion einer vermeintlichen Kontrolle nicht gänzlich verlustig zu gehen.

Zum aktuellen Zeitpunkt zeichnet sich ab, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, bis die Taliban sich der afghanischen Hauptstadt Kabul wieder bemächtigen werden, so dass hier und dort bereits Vergleiche zu dem damals unerwartet plötzlichen Abzug der Amerikaner aus dem vietnamesischen Saigon im April des Jahres 1975 gezogen werden.

Aus außenpolitischer Sicht ging dieses militärische Abenteuer Amerikas am Mekong-Delta auf eine solch überstürzte Weise zu Ende, dass die bis dahin verbündeten Südvietnamesen – allen voran Informanten und Informantinnen – den Repressalien der von Norden des Landes her einrückenden Nordvietnamesen praktisch über Nacht schutzlos ausgeliefert waren.

Ähnlich sind die Amerikaner ehedem auch im Irak mit den Kurden verfahren, welche sich im Angesicht des ersten Golfkrieges als Verbündete der Amerikaner vor Ort weitläufig enttarnt hatten, um nach dem militärischen Rückzug Amerikas den Giftgasangriffen Saddam Husseins schutzlos ausgeliefert zu sein.

Ob Amerika in Afghanistan nun ein vergleichbares außenpolitisches „Quagmire“ wie in Vietnam erleben wird, sei dahingestellt. Parallelen lassen sich zwischen den heutigen und den damaligen Ereignissen allerdings durchaus ziehen, denn ähnlich wie in den 1960er und 1970er Jahren sieht sich Amerika auch heute innenpolitisch massiv zerrüttet.

Der Eindruck lässt sich nicht von der Hand weisen, dass das Entzünden eines Streichholzes jenen Funken fliegen lassen könnte, der das innenpolitisch brodelnde Pulverfass in den USA selbst letztendlich zum Explodieren bringen könnte.

Wie dem auch sei, scheinen die Überlegungen im Pentagon dahin zu tendieren, sich nach der Aufgabe Afghanistans auf die Suche nach einem neuen Stützpunkt in der zentralasiatischen Region zu begeben.

Im vergangenen Monat hatte der pakistanische Premierminister Imran Khan im Rahmen eines Interviews gegenüber Axios vorbehaltlich verbal schon einmal die Tür zugeschlagen, darauf hinweisend, dass Pakistan weder amerikanischen Streitkräften noch der Central Intelligence Agency nach Abschluss des Truppenabzugs aus Afghanistan als alternatives Rückzugsgebiet in der Region zur Verfügung stehen wird.

Für grenzübergreifende Missionen zur Abwehr von terroristischen Gefahren, die seitens al-Qaida, den Taliban oder dem Islamischen Staat (IS) ausgingen, stünde seine Nation definitiv nicht zur Verfügung, wie Imran Khan sich damals ausdrückte.

Selbstverständlich beobachtet auch die politische Führung der Russischen Föderation zurzeit sehr genau, was in Afghanistan und der zentralasiatischen Region vor sich geht, weil es sich im Fall der „stan“-Nationen in Zentralasien um nichts anderes als die südliche Bauchflanke der russischen Nation handelt, die einstmals nicht nur integraler Bestandteil der Sowjetunion gewesen ist, sondern wo der russische Bär nach wie vor seinen politischen Einfluss spielen lässt.

Selbstverständlich geht es in dieser Region um strategische Machtfragen, die der Moskauer Kreml keineswegs dem Zufall überlassen möchte. Und da sich das amerikanische Pentagon bereits aktiv nach alternativen und geographisch an Afghanistan angrenzenden Stützpunkten in den Nachbarländern umschaut, hat die politische Führung der Russischen Föderation die Amerikaner nun ganz offen vor einer sich ausweitenden Militärexpansion in dieser Region gewarnt.

Nachdem nun bereits im Osten Europas, namentlich in Weißrussland, in der Ukraine und der Region des Schwarzen Meeres oder auch in Syrien eine brennende Lunte ans Pulverfass gelegt worden ist, kann und möchte die russische Regierung augenscheinlich nicht Zeuge der vermeintlichen Destabilisierung einer weiteren Flanke rund um das Riesenreich werden.

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass innerhalb der Russischen Föderation stets die Gefahr wie ein Damoklesschwert über dem Land schwebt, selbst rund fünfzig Millionen Muslime zu beheimaten, welche von einem Übergreifen von religiös weitaus radikaleren Ansichten in einigen der südlich angrenzenden „stan“-Nationen abgeschirmt werden sollen.

Am Dienstag teilte das russische Außenministerium gegenüber der US-Regierung offiziell mit, dass die Möglichkeit einer permanenten Stationierung von Militärstreitkräften aus den Vereinigten Staaten in den an Afghanistan angrenzenden Nationen seitens der Moskauer Regierung nicht toleriert werde und aus russischer Sicht „inakzeptabel“ sei.

Russlands stellvertretender Außenminister Sergej Ryabkow wurde durch die Military Times mit den folgenden Worten zitiert:

Wir haben den Amerikanern auf eine direkte und sehr ehrliche Weise mitgeteilt, dass sich nicht nur aus unserer Perspektive eine ganze Menge Dinge in dieser strategisch wichtigen Weltregion ändern würden (eigener Zusatz: falls es zu einer permanenten Stationierung von amerikanischen Militärstreitkräften in einzelnen Nachbarländern von Afghanistan kommen sollte), sondern dass eine solche Entscheidung auch die bilateralen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten zusätzlich belasten würde.“

Eine Warnung seitens der russischen Regierung erging in diesem Zuge auch sogleich an die Adresse der zentralasiatischen Nationen, allen voran den mit der Russischen Föderation in der Region verbündeten Staatsregierungen, um diesen eine potenziellen Stationierung von US-Truppen, deren Mission Bezug zu Afghanistan aufweisen würde, aus dem Kopf zu schlagen.

Laut Ryabkow habe seine Regierung die politischen Führungen in den zentralasiatischen Nationen vor einer Zustimmung zu derartigen Maßnahmen gewarnt, dabei auch auf die hiermit verbundenen Gefahren hinweisend.

Inhaltlich lässt sich russische Kritik leichterdings nachvollziehen. Denn sollten amerikanische Truppen in einzelnen Nachbarländern Afghanistans eine Stationierungserlaubnis erhalten, um von dort im Bedarfsfall grenzübergreifende Aktionen durchführen zu können, so wäre es alles andere als auszuschließen, dass sich plötzlich die ganze Region in ein militärisches Abenteuer verstrickt sehen könnte, in dessen Zuge eine weitere Weltregion in Brand gesetzt zu werden droht.

Sowohl in Tadschikistan als auch in Kirgistan unterhält die Russische Föderation ihre eigenen Militärbasen. Im Jahr 2014 hatte die kirgisische Regierung die Schließung einer bis dahin im Land betriebenen US-Militärbasis, von der aus es mitunter auch zu militärischen Missionen in Afghanistan gekommen war, angeordnet.

Zuvor hatte bereits der russische Außenminister Sergej Lawrow darauf hingewiesen, dass Kasachstan, Tadschikistan und Kirgistan allesamt Mitglieder der Collective Security Treaty Organization (CSTO) seien, weshalb einer Stationierung von ausländischen Truppen nur mittels eines gemeinsamen Beschlusses auf dieser Ebene stattgegeben werden könne.

Allerdings bestünde aus aktueller Sicht, so Sergej Lawrow, auch keinerlei Anlass, um davon auszugehen, dass eine der diesem Pakt beigetretenen Nationen mit dem Gedanken spiele, US-Truppen auf dem jeweils heimischen Boden zu beherbergen.

Mittlerweile beginnt sich abzuzeichnen, dass der militärische Vormarsch der Taliban in Afghanistan zu einer weitläufigen Flucht von afghanischen Soldaten, die sich von Afghanistan ins Nachbarland Tadschikistan abgesetzt haben sollen (es wird momentan von mehr als eintausend gesprochen), zu führen scheint.

Ähnlich wie ehedem im vietnamesischen Saigon scheint die Furcht unter den Betreffenden groß zu sein, als mit den Vereinigten Staaten Verbündete durch die sukzessiv einrückenden Taliban massakriert zu werden.

Laut verschiedenen Berichten komme es in diesem Zuge auch zu einer wachsenden Anzahl von afghanischen Zivilisten, welche mittels einer Grenzüberquerung angesichts des Abzugs der amerikanischen Truppenverbände das Weite aus der ihnen angestammten Heimat suchten.

Wahrscheinlich nicht von ungefähr hat die russische Führung verlautbart, Tadschikistan als eigene Einflusssphäre in der zentralasiatischen Region zu betrachten, weshalb die dort vor Ort unterhaltenen Militärbasen wahrscheinlich ausgebaut und mit direkt mit den momentanen Ereignissen in Afghanistan in Zusammenhang stehenden Sicherheitsmissionen betraut werden sollen.

Selbstverständlich geht unter der russischen Führung einmal mehr die Furcht um, dass ausländische und aus Afghanistan kommende Dschihadisten die zentralasiatische Region überschwemmen und auf diesem Weg auch die Grenzen der Russischen Föderation überqueren und dort einsickern könnten.

In der vergangenen Woche hatten sich die Taliban damit gebrüstet, im Angesicht des zeitlich anhaltenden Truppenabzugs der Amerikaner wieder 85 Prozent des afghanischen Territoriums unter eigene Kontrolle bekommen zu haben.

Nach zwanzig langen Jahren des durch die Amerikaner und ihre westlichen Verbündeten initiierten „Kriegs gegen den Terror“ scheint Afghanistan nun wieder dort zu stehen, wo das Land einst im Jahr 2001 gestanden hatte.

Damals war es erklärte Mission der US-Administration von George W. Bush, die Taliban aus der Hindukusch-Nation zu vertreiben, um jenem sich seit der sogenannten Saur-Revolution im Kriegszustand befindlichen und in diesem Zuge arg geschundenen Land Frieden, Diplomatie und natürlich Demokratie zu bringen.

Zwanzig Jahre später kann hiervon keine Rede mehr sein. Ähnlich wie im Falle Syriens oder des Iraks haben die militärischen Interventionen der Amerikaner im Mittleren Osten dagegen eine Flüchtlingswelle in Richtung des europäischen Kontinents ausgelöst, die ihresgleichen sucht.

Auch die Taliban sind, wie sich anhand der aktuellen Ereignisse zeigt, weder mit Wurzel und Stiel aus der Erde gezogen, geschweige denn aus Afghanistan vertrieben worden. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass es seitens der durch den Westen unterstützten Regierung in Kabul heißt, dass die letztwöchigen Aussagen der Taliban nichts Anderes als Propaganda seien.

Wie auch immer die aktuelle Lage eingeschätzt werden mag, so scheinen sich wachsende Teile unter der afghanischen Bevölkerung auf derlei Verlautbarungen nicht zu verlassen, da mit der Rückkehr der Taliban wohl auch wieder das Scharia-Recht in Afghanistan Einzug halten wird.

Anders nehmen sich dagegen aktuelle Einschätzungen amerikanischer Geheimdienste, auf die das Wall Street Journal kürzlich in einem Bericht Bezug genommen hat, aus. Danach könnte es maximal noch sechs Monate, wenn überhaupt, dauern, bis die pro-westliche Marionettenregierung in Kabul kollabieren und stürzen wird.

Die nördlichen Provinzen Afghanistans scheinen bereits unter der Kontrolle der Taliban zu stehen, wenn sich Berichten dieser Art Glauben schenken lässt. Hierfür sprächen durchaus aus die zunehmenden Flüchtlingszahlen in Richtung der afghanischen Nachbarländer, allen voran Tadschikistan.

„Was heißt das für mich konkret!?“

Konkret heißt das aus meiner Sicht, dass die US-Regierung im Mittleren Osten einen nahezu endlos anmutenden Krieg geführt hat, an dem sich ihre Buddies in der Rüstungsindustrie auf Kosten der dort stationierten Soldaten und Soldatinnen und auf Steuerzahlerkosten prächtig die eigenen Taschen gefüllt haben. Einmal mehr zeigt sich darüber hinaus, dass Versuche einer absoluten Kontrollausübung Widerstand hervorrufen – und zwar massiven Widerstand.

Dies wird auch der Grund dafür sein, weswegen keine politisch-wirtschaftliche Tyrannei jemals dauerhaft überlebt hat. Denn Tyrannei nutzt sich beständig ab, ruft in diesem Zuge immer mehr Widerstand – ob nun offen oder verdeckt – hervor und muss stets Angst davor haben, ihrer letzten Stunde ins Antlitz zu blicken.

Dies betrifft nicht nur die Amerikaner, sondern alle politischen und wirtschaftlichen Systeme auf der Welt. Wir Menschen scheinen im Großen und Ganzen allerdings nicht genug aus unserer eigenen Geschichte zu lernen, weshalb wir dieselben Fehler augenscheinlich immer wieder begehen.

Was es deshalb braucht, ist eine allgemeine und geistige Bewusstseinsänderung, damit der kollektive Wahnsinn endlich ein Ende finden kann. Allen voran geht es hierbei um die Überwindung der Spaltung. Zumindest bleibt Hoffnung darauf. Und das ist ja schon mal etwas.

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