"Die Bürgerschaft, die diese Republik trägt, sie wandert nach links." lässt Georg Löwisch, Chefredakteur der Taz, heute im Schlusssatz seines Artikels zur Bürgerschaftswahl in Hamburg verkünden.

Diese Aussage ist nicht nur pathetisch, sie entspricht auch nicht den Tatsachen. Die Frage stellt sich, wieviel Bionade man getrunken haben muss, um aus dem Urnengang an Elbe und Alster zu so einer Fehlanalyse zu gelangen, vor allem als politische Bestandsaufnahme für die ganze Republik.

Viel eher ist es doch so, dass die politische Landschaft Deutschlands völlig fragmentiert erscheint.

Die zerrissene Republik

Wir leben in einer zerrissenen Republik, stellen damit aber kein Unikum dar, denn dieser Prozess trifft alle westlichen Demokratien. In Hamburg sind die Grünen ungefähr so stark wie die AfD in Sachsen und Thüringen, während die AfD in Hamburg so unbedeutend ist wie die Grünen in den meisten ostdeutschen Bundesländern, Brandenburg bildet eine Ausnahme.

Nicht nur die Ost-West-Spaltung, die hier in der jeweiligen Parteienstärke erkennbar ist, sondern auch das Stadt-Land Gefälle, die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichen Boom- und abgehängten Regionen, die Unterschiedlichkeit der demographischen Zusammensetzung des Elektorats, des Bildungsniveaus und der Kaufkraft der Wähler, natürlich aber auch der jeweils unterschiedliche Zustand der Parteien und ihrer Kandidaten, sind hierfür die Basis.

Hamburg ist politisch ein Sonderfall

Wenn man das Wahlergebnis in Hamburg zur Grundlage für eine Bestandsaufnahme bezüglich der politischen Empfindlichkeiten der Republik ernennt, ignoriert man die genannten Fakten eindrucksvoll und töricht zugleich.

Nicht weit von Hamburg entfernt beginnt das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, wo die Grünen im Landesparlament beispielsweise überhaupt nicht mehr vertreten sind. In Stadtstaaten wie Hamburg, wie auch in anderen großstädtischen Ballungsgebieten, herrscht ein anderes Lebensgefühl, schlichter ausgedrückt, ein anderer Alltag vor, als im ländlichen Thüringen, in Brandenburg oder in Rheinland-Pfalz.

Den hohen Zuspruch für SPD und Grüne in Hamburg dadurch zu erklären, dass die Bürgerschaft, also das Bürgertum nach „links“ wandert, wie es der TAZ-Journalist hoffen mag, kann falscher nicht sein. Hamburg ist politisch in vielen Dingen ein Sonderfall und nicht repräsentativ für den Rest der Republik.

Die Hamburger SPD war im Prinzip immer eine rotlackierte CDU. Die SPD in Hamburg, deren Repräsentanten in der Vergangenheit sich einer aristokratischen Ausdrucksweise zu bedienen wussten, wie Helmut Schmidt, Klaus von Dohnanyi, Henning Voscherau, wurde im Bürgertum schon seit Jahrzehnten akzeptiert, bis hinauf auf höchstes soziales Niveau, gerade auch weil sie dort nicht „links“ auftritt und die Privilegien der Reichen und Superreichen, die in Hamburg zahlenmäßig stärker und politisch einflussreicher sind als anderorts in Deutschland, nicht in Frage stellte und stellt.

Ähnliches gilt für die Grünen, die dem urbanen Zeitgeist einer linksliberalen Intelligenzia entsprechen, smart auftretend, aber nicht frei ist von Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit. Die klassische Klientel der SPD ist zu einem nicht unerheblichen Anteil zu der Partei die Linke abgewandert, besonders stark im Gesundheitswesen, flankiert von einem akademischen Überbau.

Die Tatsache, dass die Linke in Hamburg als einzige Oppositionspartei Zugewinne verzeichnen konnte, im Gegensatz zu CDU, FDP und AfD, unterstreicht diese Tendenz. Ein anderer Teil votiert heute für die AfD, diese Tendenz ist bis ins Kleinbürgertum erkennbar, wenn auch peripher im Vergleich zu den Wählerwanderungen hin zur AfD in anderen Bundesländern.

SPD und CDU in Thüringen gemeinsam schwächer als AfD

Der Niedergang der CDU setzt sich fort. In Hamburg erzielte sie ihr schlechtestes Ergebnis überhaupt. Dieses magere Resultat darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Niedergang der Volksparteien sich in einer Art Tandem-Bewegung vollzieht, also beide großen Parteien trifft, die einst das politische Geschehen der Bundesrepublik dominierten.

In Thüringen sind beispielsweise CDU und SPD zusammen schwächer als die AfD. Diese Entwicklung, die sich auch in der Tendenz zu Parlamenten mit fünf bis sechs Parteien, von denen viele gleich stark sind, ausdrückt, kann man als eine belebende Quelle für die Demokratie empfinden. Ob sie der repräsentativen Demokratie guttut, ist eine andere Frage, deren Beantwortung nicht eindeutig ausfallen kann, da dieser Prozess noch in vollem Gange ist.  

Das Bürgertum, dieser Begriff wird heute unscharf als „Mitte“ verkauft, ist in Bewegung. Es ist aber weder eine Bewegung nach „links“, noch nach „rechts“. Diese Bewegung ist Ausdruck einer Dynamik, entfacht von Globalisierung und Turbo-Kapitalismus, unter der die Institutionen ächzen und die Verfahren der politischen Praxis herausgefordert werden.

„Was bedeutet das konkret für mich!?“

Wir leben im Zeitalter der Massendemokratie. Der deutsch-griechische Politologe Panajotis Kondylis schrieb dazu 1991, also unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges:

Die moderne Massendemokratie hat somit die Begriffe „Konservativismus", „Liberalismus" und „Sozialismus" mit einem Schlag gegenstandslos gemacht. Durch die extreme Atomisierung der Gesellschaft und die unbegrenzte Mobilität, die sie aufgrund ihrer Funktionsweise benötigt, hat sie die großen kollektiven Subjekte aufgelöst, mit denen sich jene Begriffe verbanden, solange sie einen konkreten geschichtlichen Gehalt und Bezug besaßen.“

Panajotis verstarb 1998, konnte also die Richtigkeit seiner Analyse, die heute zum Tragen kommt, nicht mehr erleben. Wir sind aber Zeugen dieser Entwicklung, die sich in unserer Zeit vollziehen. Es liegt also an uns, dem mündigen Bürger, Strukturen zu errichten, die dem Lauf der Zeit entsprechen, dessen Dynamik kanalisieren. Auf Politiker und Parteien sollte man dabei nur sehr bedingt setzen, es liegt an uns.

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