Der Westen steht unter Schock

Der Rauch der gestrigen Terroranschläge am Kabuler Flughafen, in deren Zuge neben vielen Zivilisten auch mindestens dreizehn amerikanische Soldaten ums Leben gekommen sind, hat die innenpolitische Atmosphäre in den Vereinigten Staaten auf den Siedepunkt gebracht.

Fernab des mit dem Afghanistan-Debakel verbundenen Schocks in der Heimat und der lautstark kritisierten Führungsschwäche der Biden-Administration ist es darüber hinaus zum Ausbruch eines seismischen Erdbebens auf geopolitischer Ebene in Afghanistan gekommen.

Letzten Endes ist es am Hindukusch zum Zusammenbruch einer westlichen Schlüsselstrategie zur Mitsprache und Kontrolle in einer Region gekommen, die Mackinder im 19. Jahrhundert einst als asiatisches Herzland bezeichnet hatte.

Der Fall von Afghanistan spielte sich innerhalb von nur wenigen Tagen ab, ohne dass es zum Ausbruch eines Kampfes oder Krieges gekommen wäre. Allein diese Beobachtung macht die aktuellen Entwicklungen in der Region zu etwas, was sich auf geopolitischem Gebiet zuvor noch nicht auf eine diese Weise beobachten ließ.

Es handelt sich um einen traumatischen Schock, den Amerika und der gesamte Westen am Hindukusch erlitten haben, und der sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen wird. Anders als im Fall von 9/11 wird im Westen nun der Versuch eines anderen Umgehens mit dieser Situation unternommen.

Anstelle von Kriegshandlungen wird der Verlust „einer Geliebten“ betrauert. Selbst Minister konnten sich der Tränen nicht erwehren. Waren es ursprünglich noch ein erlittener Schock und Realitätsverweigerung, die das Bild bestimmten, so setzte daraufhin eine Phase des Schmerzes und der Schuldhaftigkeit in Bezug auf all jene Verbündeten am Kabuler Flughafen ein, von denen sich abzuzeichnen begann, dass sie es aus dem entstehenden Sumpf nicht herausschaffen würden.

USA: Pessimismus macht sich breit

Mittlerweile sind die ersten beiden Phasen in Frust, Ärger und Zorn übergegangen. Eine vierte Phase beginnt sich in den Vereinigten Staaten bereits abzuzeichnen: Depression. Aktuelle Umfragen legen Zeugnis darüber ab, auf welch rasante Weise sich in den Vereinigten Staaten ein tief sitzender Pessimismus unter den Menschen breitmacht.

Dies gilt nicht nur aus Sicht der Pandemie-Bewältigung, sondern vor allem auch aus dem Blickwinkel der ökonomischen Lage, des weiteren wirtschaftlichen Ausblicks sowie des politischen Kurses, den die amerikanische Republik in der Zukunft einschlagen wird. Und oben drauf kommt jetzt auch noch die außenpolitische Katastrophe in Afghanistan.

In einem Bericht der New York Times berichten uns die Herausgeber des Blattes darüber, wer diese „afghanische Geliebt“ gewesen ist. Dort heißt es:

„(Das Debakel in Afghanistan) ist tragisch, weil der amerikanische Traum von der ‘unentbehrlichen Nation’ in einer Welt, in der Werte wie bürgerliche Freiheitsrechte, Frauenrechte und religiöse Toleranz die Taktgeber sind, sich gerade eben als bloßer Traum herausgestellt hat.“

NATO: Ein toter Mann auf zwei Beinen & „Liberale Ordnung“ in Gefahr

Michael Rubin repräsentiert derweil das Lager der Falken, um zu ganz eigenen Schlussfolgerungen über „das Ableben des Körpers“ zu gelangen:

„Biden, Blinken und Jake Sullivan mögen vielleicht Erklärungen in Bezug auf zu einem früheren Zeitpunkt begangene Fehler und Grenzüberschreitungen der NATO abgeben, und in diesem Zuge die Notwendigkeit auf eine Fokussierung von Kerninteressen Washingtons weiter westlich ins Feld führen. Und Offizielle des Pentagons und andere Diplomaten mögen herausstellen, dass Amerika sich seinen eingegangenen Verpflichtungen auch weiterhin mit Entschlusskraft zu stellen bereit ist. Tatsache und die sich gerade herausbildende Realität sind jedoch, dass die NATO ein toter Mann auf zwei Beinen ist.“

In einem zuvor publizierten Bericht, der sich mit dem Zorn befasst, welcher Joe Biden und dessen Administration angesichts des allgemein emporkommenden Gefühls in Washington über das Erleiden einer strategischen Apokalypse gerade entgegenschlägt, wird einmal mehr auf beste Weise durch Michael Rubin thematisiert:

„Die Volksrepublik China dazu in die Lage versetzend, ihre strategischen Interessen in Afghanistan zu befördern, ermöglicht Biden auf eben jene Weise, neben dem Subkontinent Indien auch andere amerikanische Verbündete von Zentralasien abzuschneiden. Die Dinge lassen sich auf einen einfachen Punkt bringen. Bidens Inkompetenz und Unfähigkeit bringen die gesamte nach dem Zweiten Weltkrieg initiierte und liberale Ordnung in Gefahr…Gott helfe und beschütze die Vereinigten Staaten von Amerika.“

Michael Rubin spricht klar und deutlich aus, worum es in Afghanistan in Wahrheit immer gegangen ist: Zentralasien zu zergliedern und die Russische Föderation und die Volksrepublik China zu schwächen. Zumindest erspart uns Rubin Rufe und heuchlerische Forderungen nach einem Schutz der Ausbildungsmöglichkeiten unter afghanischen Frauen.

Forderungen nach einer Re-Stationierung – Ein Ding der Unmöglichkeit?

Andere Stimmen, die sich eng mit dem militärisch-industriellen Komplex in den Vereinigten Staaten verbunden sehen, lassen nicht von ihren Forderungen nach einer Re-Stationierung von amerikanischen Truppen in Afghanistan zur Weiterführung eines inzwischen zwanzigjährigen Krieges – samt sich fortsetzender Waffenverkäufe an Afghanistan – ab.

Vordergründig soll dies geschehen, um Frauenrechte am Hindukusch „zu schützen“. Michael Rubin gelangt seinerseits zu folgendem Fazit: „Anstatt Amerikas außenpolitische Position gegen die Volksrepublik China zu stärken, hat Biden sein Land in einen Abgrund geführt.“

Auch in Großbritannien kann es der Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für ausländische Angelegenheiten, Tom Tugendhat, nicht fassen, was gerade geschehen ist. Einerseits kritisiert der britische Parlamentarier Bidens strategische Fehler und andererseits fordert Tugendhat am Imperativ einer Nicht-Aufgabe mit allen Mitteln festzuhalten:

Hier geht es nicht nur um Afghanistan“, wie Tugendhat schreibt, „,sondern es geht um uns alle. Wir sehen einer enormen Herausforderung ins Antlitz, auf welche Weise die Welt in der Zukunft funktionieren soll. Wir beobachten, auf welche Weise autokratische Mächte wie die Volksrepublik China und die Russische Föderation die bestehenden Regeln herausfordern und Abmachungen brechen, die wir auf den Weg gebracht haben…“

Tugendhat glaubt: 

Wir können das Ruder noch herumreißen. Wir sehen uns geradezu hierzu verpflichtet. Es geht hier um eine zu treffende Wahl und Entscheidung. Auf dem jetzigen Weg verbleibend, entscheiden wir uns dazu zu verlieren.“

Viele Stimmen im Lager der Falken in Washington zeigen sich indes davon überzeugt, dass eine solche Entwicklung selbstverständlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Diese Ära sei nun beendet, denn was allein die Bilder und Ereignisse aus und in Afghanistan aus den letzten Tagen gezeigt hätten, sei, dass es zu einem einschneidenden Paradigmenwechsel gekommen ist.

Unter vielen Beobachtern und Kommentatoren schlägt Joe Biden nicht mehr nur Frust, Wut und Zorn, sondern gar blanker Hass entgegen. Dabei hatte sich die aktuelle Entwicklung schon seit längerer Zeit in all ihren Facetten abgezeichnet.

Ein Stuhl am Tisch des „Great Game“

Aus dem Blickwinkel Afghanistans lässt sich konstatieren, dass es eine Grenze gibt, wie lange sich eine korrupte Elite, die sich zudem von den Wurzeln ihrer eigenen Bevölkerung weiter entfernt sieht als die Erde vom Mars, durch rein ausländische Intervention und Okkupation in ihrem Amt halten lässt. Denn eine solche „Regierung“ verfügt über keinerlei Legitimation.

Der Sturz dieser Regierung und der damit verbundene Fall von Afghanistan haben ein geopolitisches Erdbeben ausgelöst. Westliche Geheimdienste schienen derart mit sogenannten „counterterroristischen Aktionen“ beschäftigt gewesen zu sein, dass sie letztendlich in dem wesentlichen Punkt versagt haben, die sich neu entwickelnden Dynamiken in der Region überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Vielleicht könnte diese Tatsache auch in Zusammenhang damit stehen, dass die Biden-Administration an ihrer Einschätzung festhielt, dass es vermeintlich noch mehrere Monate brauchen könnte, bevor das Ghani-Regime in Kabul dem Risiko eines Zusammenbruchs ins Auge blicken würde.

Jene Taliban, auf die wir heute blicken, sind in ihrer ethnischen Zusammensetzung weitaus komplexer als jemals zuvor, was auch der Grund dafür sein könnte, auf eine derart rasante Weise dazu in der Lage gewesen zu sein, das durch den Westen in Afghanistan installierte Regime hinwegzufegen.

Schon zum aktuellen Zeitpunkt wird einer politischen Integration in Afghanistan das Wort geredet, um in diesem Zuge in den Iran sowie nach Russland, China und Pakistan zu blicken. Von diesen Nationen wird erhofft, dass sich deren politische Führungen als Mediatoren mit Blick auf den eigenen Aufbau- und Integrationsprozess im Innern erweisen werden.

Auf diese Weise wird den genannten Nationen natürlich auch ein Stuhl am Tisch des „Great Game“ zuteil. Hierin könnte sich der Grund finden, weshalb die Taliban ausdrücklich ihre Bereitschaft bekräftigt haben, den Ausbruch eines Bürgerkriegs in Afghanistan mit allen Mitteln verhindern zu wollen.

In diesem Zuge wurde gar die Versicherung abgegeben, dass die Gebräuche unter einer Vielzahl von religiösen Sekten respektiert werden. Auch Frauen und Mädchen könnten weiterhin ihren Ausbildungen nachgehen, solange sie dabei nicht den Rahmen des Scharia-Rechts überschritten.

Realpolitik der Taliban? - Blick Richtung Shanghai Cooperation Organisation

Die politischen Einfluss in Afghanistan ausübenden Mächte, allen voran China, der Iran, Pakistan und Russland, haben einen wichtigen Anteil daran, die Taliban mit deren bislang ärgsten Gegnern im Land an einen Verhandlungstisch zu bringen. Könnte es gar der Fall sein, dass sich die Taliban – entgegen den 1990er Jahren – heute eines bedeutsam höheren Maßes an Realpolitik bedienen werden, um sich einer Metamorphose Zentralasiens nicht in den Weg zu stellen?

Die Taliban scheinen längst erkannt zu haben, dass die SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) in der Zukunft die regional-strategischen Entwicklungen bestimmen wird, was dazu führen könnte, die Taliban auf internationaler Bühne zu einem anerkannten Partner aufsteigen zu lassen. Der Nimbus der politischen Unberührbarkeit scheint soeben auf dem Haufen der Geschichte zu verdampfen.

Vielmehr scheinen die Taliban verstanden zu haben, mit Hilfe und finanzieller Unterstützung der SCO das eigene Land wiederaufbauen und danach auch entsprechend entwickeln zu können. Noch schwebt allerdings der mögliche Ausbruch eines Bürgerkriegs wie ein Damoklesschwert über dem Land.

Wahrscheinlich wird die CIA ihre Versuche auch nicht aufgeben, die neuen Herrscher am Hindukusch in Form von sogenannten „Einsickerungsaktionen“ in Schach zu halten. Akte der Gewalt und Morde ließen sich im Nachgang auf einfache Weise den „terroristischen“ Taliban in die Schuhe schieben.

Trotz allem gibt es im Vergleich mit der damaligen Zeit gewaltige Unterschiede, die in der Beschaffenheit der externen, geopolitischen Architektur wurzeln. Die ausländischen Partner der Taliban in der Region haben ihrerseits deutlich gemacht, dass die Taliban wieder ihren Pariah-Status einnehmen werden, wenn sich deren Führer nicht an abgegebene Versprechen halten werden.

In einem solchen Fall würden auch China und Russland wieder dazu übergehen, die Taliban als eine terroristische Organisation wahrzunehmen und entsprechend zu behandeln. Grenzen zu den afghanischen Nachbarstaaten würden geschlossen, die heimische Wirtschaft würde abstürzen.

China nimmt seine Rolle ein

In diesem Fall wäre der Ausbruch eines blutigen Bürgerkriegs am Hindukusch nur noch eine Frage der Zeit. Die Volksrepublik China zeigt sich noch bei Weitem mehr dazu entschlossen, in der Zukunft eine führende Rolle bei der Transformation der gesamten Region zu spielen, als es bislang viele (westliche) Beobachter und Analysten wahrhaben möchten.

Häufig wird China auf eine Stufe mit einem merkantilistischen System gesetzt, allein das Interesse verfolgend, die eigene Wirtschaftsagenda voranzutreiben. Es bleibt jedoch nicht zu vergessen, dass Chinas Neumark, die westlichste Provinz Xinjiang, an Afghanistan angrenzt. Allein schon aus diesem Grund ist Peking aus außenpolitischer Sicht an Ruhe und Ordnung in Afghanistan gelegen.

Dem potenziellen Einsickern von ethnisch den Turk-Völkern zuzurechnenden Eindringlingen aus Afghanistan in Richtung von Turkmenistan und Xinjiang, gefördert durch den Westen, wird sich Peking mit allen Mitteln entgegenzustellen wissen. Die Uiguren sind ethnisch mit den Turk-Völkern verwandt, weshalb Peking in diesen Belangen alle Härte an den Tag legen dürfte.

Der jetzt erfolgende Abzug der Amerikaner und der westlichen Nationen aus Afghanistan öffnet sowohl der Volksrepublik China als auch der Russischen Föderation darüber hinaus das Tor zur Erweiterung von regionalen Wirtschaftskorridoren. In diesem Zuge wird die in den zentralasiatischen Staaten bestehende Sicherheitslage transformiert.

Den USA wurde eine Stationierung von eigenen Truppen in den Nachbarstaaten von Afghanistan verweigert, allen voran durch Pakistans Premier Imre Khan, was nun zu einer Re-Stationierung von Mittelostkräften der Amerikaner in Jordanien geführt hat. Um auf Michael Rubin zurückzukommen, so lässt sich sagen, dass sich in dessen Ausführungen nur die halbe Wahrheit spiegelt.

Die USA wurden ausgetrickst

Die fehlende Hälfte manifestiert sich anhand der Tatsache, dass die USA durch Russland, China und den Iran in der Region ausgetrickst wurden. Westliche Geheimdienste haben auf eklatante Weise dabei versagt, die sich neu entwickelnden Dynamiken in Afghanistan zu erkennen und hierauf entsprechend zu handeln.

Im Übrigen ist diese Sichtweise zuletzt auch anhand von Ausführungen des ehemaligen CIA Operative Officers Brian Dean Wright untermauert worden. Die westlichen Dienste scheinen vollkommen übersehen zu haben, dass ausländische Mächte wie China, der Iran und Russland einen Beitrag dazu geliefert zu haben scheinen, um vor deren eigenen Nase einen Ausgleich zwischen den Taliban und anderen Stämmen in Afghanistan herzustellen.

Ein weiteres Domino war bereits vor dem nun sichtbar werdenden Debakel in Afghanistan gefallen. Irans neue Regierung hatte eine strategische Neupositionierung des eigenen Landes bekanntgegeben – und zwar in Partnerschaft mit der Volksrepublik Chin und der Russischen Föderation.

Schlussendlich ist es darüber hinaus auch zu einer strategischen Neupositionierung Pakistans gekommen. Das Ersuchen der Amerikaner, eine an Afghanistan angrenzende Militärbasis zu betreiben, wurde, wie bereits erwähnt, rundheraus abschlägig beschieden. Der Iran ist inzwischen formell dazu eingeladen worden, sich der SCO anzuschließen

Letzten Endes würde ein solcher Beitritt auch zu einem Folgebeitritt des Irans als Mitglied der Eurasian Economic Union (EAEU) führen. Dem Iran würde auf diese Weise also ein vollkommen neuer Wirtschafts- und Handelshorizont eröffnet und in Aussicht gestellt.

„Was heißt das konkret für mich!?“

Im Angesicht des westlichen Abzugs von Hindukusch nehmen die Erweiterung und Ausbildung von strategisch wichtigen Wirtschaftskorridoren auf dem eurasischen Kontinent Formen an.

Die Volksrepublik China sitzt am Fahrzeugsteuer dieser Entwicklung. Sowohl China als auch Russland haben die Taliban-Regierung in Kabul anerkannt, was höchst wahrscheinlich zum Bau einer neuen Pipeline der Chinesen entlang eines neuen „Fünf-Nationen-Korridors“ führen wird. In diesem Zuge dürfte in der Zukunft iranisches Rohöl via Nordafghanistan nach China gepumpt werden.

Hierauf könnte unter aller Voraussicht eine Verbindung zwischen dem russischen St. Petersburg via Afghanistan bis hinunter in den iranischen Seehafen von Tschahbahar verlaufen. Aus Sicht des Westens erweist sich der momentane Fall von strategisch-komplexen Dominosteinen auf der geopolitischen Landkarte als etwas, dessen Tragweite sich zum aktuellen Zeitpunkt noch in keiner Weise als überschaubar erweist.

Gastbeitrag (in leicht gekürzter Form) für CK*Wirtschaftsfacts / © Alastair Crooke / Strategic Culture Foundation

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