In einem früheren Beitrag habe ich die offene Gesellschaft durch den Primat der Freiheit statt des Primats des Wissens charakterisiert und festgestellt, dass wir die offene Gesellschaft zu verlieren drohen. Wir sind wieder mit der Anmaßung von Wissensansprüchen konfrontiert, die in gesellschaftliche Umerziehungsprogramme münden. In diesem Beitrag möchte ich den Ursachen nachgehen. Meine Diagnose ist, dass wir es mit einem Trend zu tun haben, der sich aus dem Zusammenspiel von vier Faktoren speist:
1) Szientismus
Das ist die Idee, dass Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaften unbegrenzt ist. Ihr Gegenstandsbereich umfasst auch das menschliche Denken und Handeln. In Analogie zur technischen Ingenieurskunst, die unsere Lebensumstände verbessert, soll eine soziale Ingenieurskunst entwickelt werden, die die Gesellschaft auf angeblich wissenschaftlicher Grundlage steuert.
„Folge der Wissenschaft“ ist das Motto des Szientismus, das uns bei den Themen Corona und Klima um die Ohren geschleudert wird. Wie schon Friedrich von Hayek in den 1950er Jahren feststellte, handelt es sich dabei jedoch um das genaue Gegenteil von Wissenschaft (The counter-revolution of science. Studies on the abuse of reason, 1952).
Der Szientismus zerstört die Wissenschaft in dreierlei Hinsicht:
Er gibt die Objektivität von Wissenschaft auf. Normen und Werte treten an die Stelle von Fakten. Mehr noch: Die Fakten werden in pseudo-wissenschaftliche Modelle gepresst, um die gewünschten Handlungsanweisungen zu liefern.
Er gibt die wissenschaftliche Methode auf. Auf etwas, das als politische Handlungsanweisung ausgegeben wird, kann man nicht mehr die wissenschaftliche Methode des Zweifelns, Nachprüfens und Suchens nach etwas, das den entsprechenden Erkenntnisanspruch als falsch erweist, anwenden.
Er zerstört die gesellschaftliche Akzeptanz von Wissenschaft: Der Szientismus spaltet die Gesellschaft durch (Pseudo-)Wissenschaft. Diejenigen, die andere Ziele und Werte haben als die angeblich durch Wissenschaft vorgegebenen stehen dann als Gegner der Wissenschaft da. So ist es zum Beispiel bei der Corona-Impfkampagne geschehen, die ein Musterbeispiel für Scharlatanerie und Profitinteressen, die über Leichen gehen, statt Wissenschaft war. Die Anerkennung, die Wissenschaft in der Gesellschaft über alle verschiedenen Wertvorstellungen hinweg genießt und die die Grundlage für ihre Finanzierung durch Steuern ist, hängt hingegen an ihrer Objektivität. Wenn Wissenschaft zu einer Religion wird, sind wir wieder im vorwissenschaftlichen Zeitalter – und fallen zurück in Religionskriege.
2) Postmoderne und Postmarxismus
Das Zeitalter der Moderne kann man dadurch charakterisieren, dass Vernunft als Mittel eingesetzt wird, um Machtansprüche zu begrenzen. Vernunft ist universell: Die Vernunftanlage kommt allen Menschen zu und eint die Menschheit – während Merkmale wie Geschlecht, Ethnie, Religion usw. uns voneinander trennen. Auf der Grundlage universeller Vernunft kommen allen Menschen gleiche Rechte auf Selbstbestimmung über ihr Leben zu.
Die intellektuellen Vordenker der Postmoderne sehen hingegen den universellen Vernunftgebrauch als Herrschaftsinstrument einer bestimmten Klasse an, nämlich vorwiegend weißer, christlicher und heterosexueller Männer. Darin kommen diese Intellektuellen mit den Postmarxisten überein, die ständig neue, angebliche Opfergruppen der Aufklärung mit ihrem universellen Vernunftgebrauch und der Marktwirtschaft, in der Menschen ihre Vernunft in freiwilligen Interaktionen einsetzen, zu (er)finden suchen.
Auf die Spitze wird dieses Schema mit den Thema Corona, Klima und Minderheiten getrieben: Wir sind alle Opfer und damit zugleich Täter. Wir werden unter Generalverdacht gestellt, mit jeder freien Handlung potenziell andere zu schädigen: Jeder direkte soziale Kontakt kann zur Verbreitung von Viren beitragen. Jeder Verbrauch von Energie kann zum Klimawandel beitragen. Jede Meinung, die man frei äußert, kann die Gefühle von Angehörigen einer in der Vergangenheit unterdrückten Minderheit verletzen. Von diesem Generalverdacht wäscht man sich rein, indem man sich einem System totaler Regulierung des gesellschaftlichen und sogar des privaten Lebens unterwirft. Freiheiten werden zu Privilegien, die man sich durch Gehorsam gegenüber einer herrschenden Elite erwirbt.
Die Allianz zwischen Szientisten und postmodernen, postmarxistischen Intellektuellen funktioniert so: Die grün angestrichenen Postmarxisten geben die Themen vor – Corona, Klima, Wokeness. Die Szientisten im wissenschaftlichen Mantel nehmen diese Themen auf und entwerfen technokratisch die Maßnahmen, mit denen die Menschen umerzogen und ihrer grundlegenden Rechte beraubt werden.
Das ist der ideologische Überbau. Er ist allerdings machtlos, wenn er sich nicht eines realpolitischen Unterbaus bedienen könnte:
3) Fürsorgestaat statt Rechtsstaat
Der Rechtsstaat gewährt allen Menschen gleiche Rechte auf Selbstgestaltung ihres Lebens. Er schützt jedem auf seinem Gebiet vor Übergriffen auf Leib, Leben und Eigentum. Dazu übt er das Gewaltmonopol aus mit dem Monopol der Gesetzgebung, der Exekutive und der Rechtsprechung.
Inzwischen ist der Rechtsstaat jedoch zum Fürsorgestaat pervertiert. Statt Schutz vor unerwünschten Eingriffen in die eigene Lebensgestaltung stellt er Schutz vor allen möglichen Lebensrisiken bereit und wird dadurch selbst übergriffig. Er verdrängt die freiwilligen Formen der Absicherung gegen Risiken wie Alter und Krankheit durch Familien, Genossenschaften und privatrechtliche Versicherungen. An deren Stelle setzt er ein Monopol von Zwangsversicherungen. Schließlich weitet er seinen Zwangs-Schutz immer weiter aus bis hin zum Schutz vor Viren, Klimawandel und unliebsamen Meinungen (auch wenn diese wahr sein sollten). Dazu reguliert er das gesellschaftliche und das private Leben umfassend.
Hier begegnen sich Szientismus, intellektuelle Postmoderne / Postmarxismus und Fürsorgestaat. Die mit dem Gewaltmonopol gegebene Machtfülle ist offenbar eine zu große Versuchung, als dass Politiker ihr widerstehen könnten: Je mehr sie gestalten wollen, desto weniger Freiheit bleibt den Menschen und ihren freiwilligen Zusammenschlüssen wie Familien, Vereinen, Genossenschaften usw.
4) Lenkungswirtschaft statt Marktwirtschaft
Der Fürsorgestaat benötigt für seine Machterhaltung und -erweiterung Unternehmen, die entsprechende Produkte herstellen, und Intellektuelle, die entsprechende Narrative verbreiten. Daraus ergibt sich das Staatsmonopol über einflussreiche Medien, Bildung, Wissenschaft, Kultur und die zunehmende Lenkung der Wirtschaft. Für Unternehmen ist es ihrerseits attraktiv, statt den mühsamen Weg zu gehen, Kunden von ihren Produkten und Dienstleistungen zu überzeugen und für Schäden haften zu müssen, auf Politiker Einfluss zu nehmen und Produkte herzustellen, die der jeweiligen Ideologie entsprechen: Die Gewinne sind dann privat und garantiert; die Risiken werden auf den Steuerzahler abgewälzt.
Auf die Spitze getrieben wurde dieses Geschäftsmodell mit den Corona-Impfstoffen: Der Staat schafft künstlich die Nachfrage nach den Produkten durch die Verbreitung entsprechender Propaganda (es war beispielsweise von vornherein klar, dass die Impfstoffe die weitere Verbreitung des Virus nicht unterbinden können). Er nötigt die Produkte den Menschen regelrecht auf. Zudem befreit er die Unternehmen von der Haftungspflicht für Gesundheitsschäden durch ihre Produkte und legt die entsprechenden Verträge nicht einmal offen. Das ist die Perversion von Marktwirtschaft und Rechtsstaat: Einige sind frei und machen mit den anderen, was sie wollen. In Marktwirtschaft und Rechtsstaat sind hingegen alle frei: Jeder ist verpflichtet, das Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben von jedem anderen zu respektieren.
Jeder einzelne dieser Faktoren ist immer präsent: Es gibt immer Wissenschaftler, die Wissenschaft mit einer religiösen – besser gesagt abergläubischen – Mission verwechseln, und den Menschen gesellschaftliche Umerziehungsprogramme auferlegen wollen. Es gibt immer Intellektuelle, die den Untergang der Menschheit herbeischwadronieren, wenn man die Gestaltung ihres Lebens den Menschen selbst durch freiwillige Interaktionen und Zusammenschlüsse überlässt. Es gibt immer Politiker, die ihre Macht zu missbrauchen versuchen, indem sie nicht Rechtssicherheit für alle gewähren, sondern den Menschen Vorschriften für ihre Lebensweise machen. Und es gibt immer Unternehmer, die lieber Politiker beeinflussen, um den Menschen ihre Produkte und Dienstleistungen aufzuzwingen, statt Kunden im freien Markt zu überzeugen und die Haftung für ihre Produkte und Dienstleistungen zu übernehmen.
Das Übel, mit dem wir konfrontiert sind, ergibt sich aus dem Zusammenspiel dieser vier Faktoren. Wir haben den Kompass unserer Zivilisation verloren. In meinem nächsten Beitrag formuliere ich drei Schritte, um diesen Kompass wiederzugewinnen.
Anmerkung der Redaktion & "Was heißt das konkret für mich?"
Prof. Michael Esfeld ist Autor des Buches „Land ohne Mut: Eine Anleitung für die Rückkehr zu Wissenschaft und Rechtsordnung“. Seine obige Analyse macht deutlich, dass es heute wichtiger denn je ist, kritisch zu hinterfragen, was als "wissenschaftlicher Konsens" präsentiert wird. Verlassen Sie sich nicht blind auf Aussagen wie „das sagt die Wissenschaft“, sondern prüfen Sie, ob es nicht fundierte, abweichende Meinungen gibt. Nur so können Sie sich vor ideologisch motivierten Fehlinformationen schützen und die wissenschaftliche Methode des Zweifelns und Prüfens bewahren. Treffen Sie Ihre Entscheidungen auf Grundlage rationaler Überlegungen statt emotionaler Manipulation oder kollektivem Druck.
Die Bewahrung der eigenen Freiheit erfordert außerdem, den Verlockungen eines übergriffigen Fürsorgestaates aktiv zu widerstehen. Auch wenn dieser Sicherheit verspricht, geschieht dies oft auf Kosten von Autonomie und Entscheidungsfreiheit. Übernehmen Sie Eigenverantwortung und gestalten Sie Ihr Leben selbst.
Wer sich der vier Kräfte – Szientismus, postmoderne Ideologie, Fürsorgestaat und Lenkungswirtschaft – bewusst ist, kann besser erkennen, wie diese die eigene Freiheit und Selbstbestimmung bedrohen. Wenn Sie Abhängigkeiten vermeiden wollen, handeln Sie aktiv, um Ihre Autonomie zu bewahren.
Kommentare
Wie soll dieses in der BRD funktionieren?
Jeder der kein nachgewiesener Deutscher ist, sondern als Staatsangehörigkeit deutsch (laut Personalausweis) sein eigen nennt, sowie sich als Herr oder Frau angesprochen fühlt, ist in der BRD nur eine Sache, so wie ein Tisch oder Stuhl.
Was für Rechte hat ein Stuhl oder Tisch, genau keine.
Obige Gedanken stimmen mich schon nachdenklich. Gut auf den Punkt gebracht. Vermutlich hat der Autor das vertextet, was in vielen Köpfen herumblitzt, aber man es selbst nicht so auf den Punkt bekommt. Guter Artikel!
Würden sich die Menschlein gegen dagegen entsprechend wehren, , könnte abhilfe geschaffen werden. Das Problem ist die Denkbequemlichkeit der Menschlein, den Meisten ist dieser Umstand leider nicht einmal bewußt!
Ja, Abhängigkeit zu vermeiden ist zwischenzeitlich schon schwierig geworden, da man sich vielen Zwangsmaßnahmen von Seiten der Politik schwer bis gar nicht entziehen kann, oder entsprechende Konsequenten in Kauf nehmen muß. Und genau da beginnt es, selber denken, selber handeln und gebenenfalls mit Mut entsprechend seiner eigenen Überzeugung zu folgen, auch wenn diese mit Unannehmlichkeiten und Einschränkungen verbunden sind. Die Entscheidung liegt in erster Linie für meine tatsächliche Freiheit oder für die gefühlte Freiheit, z. B. Corona. Eine echte Freiheit war zu sagen, OK, gehe ich halt nicht Essen, nicht ins Kino, fahre nicht weg, denn meine körperliche Unversehrtheit ist mir einfach wichtiger. Eine echte, persönliche Freihheit, war in diesem Fall die Prioritätensetzung unter Inkaufnahme der politisch gewollten Einschränkung einer allgemeinen Freiheit. Wesentlich mehr Menschlein hätten dies tun können (Ausnahme beruflich/existentiell), wären nicht gezwungen gewesen, sofort und ohne wenn und aber auf den Zug der Angst aufzuspringen und sich den "Mitfahrbedingungen" einfach nur zu unterwerfen. Wären mehr Menschlein bereit gewesen für ihre eigene persönliche Freiheit einzustehen, wären wahrscheinlich auch die gesellschaftlichen Auswirkungen weniger drastisch ausgefallen. Freiheitliche, persönliche Entscheidungen zu treffen bedeutet, im Gegenzug dafür auch etwas aufzugeben, ein gewisses Risiko einzugehen und in Kauf zu nehmen, denn die echte, eigentliche Freiheit liegt in der persönlichen Gewichtung von eigenen Prioritäten. Je mehr Menschlein dies verinnerlichen und entsprechend wehrhaft ihre persönliche Freiheit verteidigen, dies gilt vor allen Dingen für eigenständige, breitbandige Information, für eigenständiges Denken und Abwägen etc., desto schwerer macht man einer Regierung die Übergriffigkeit in den persönlichen Bereich. Ohne Mut, Selbstbewußsein und Eigenveratnwortung wird man zum Spieball Jener, die zwar Freiheit propagieren, aber Einschränkung forcieren. Einzelne, mutige Menschlein zu drangsalieren und einzusperren ist leicht, eine mutige, widerständige Masse dagegen wird jedoch schwer bis unmöglich.
Die Masse fühlte sich doch gut beschützt;-) Es gab für sie keinen Grund, sich den "Mitfahrbedingungen" zu entziehen. Die höchste Form der Menschen(ver)führung.