Die Tradition der Bundeswehr ist der Kern ihrer Erinnerungskultur. Sie ist die bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in gewachsenen Ausdrucksformen. Tradition ist damit Bestandteil des werteorientierten Selbstverständnisses der Bundeswehr mit ihren militärischen und zivilen Anteilen. Sie festigt deren Verankerung in der Gesellschaft. Als geistige Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft verbindet Tradition die Generationen und gibt Orientierung für das Führen und Handeln.“

So lautet einer der Grundsätze der Bundeswehr, nach eigenen Angaben, bezüglich der Richtlinien zum Traditionsverständnis und der Traditionspflege.

Die Deutsche Marine, die sich bis 1995 Bundesmarine nannte, fühlt sich natürlich auch diesem Traditionsverständnis verpflichtet, als Teilstreitkraft der Bundeswehr.

Liegt Deutschland am Südchinesischen Meer?

Umso erstaunlicher erscheint in jüngster Zeit, welche geistigen Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft bei der Deutschen Marine konstruiert werden, beziehungsweise auf welche Traditionen man sich zu berufen gedenkt. Kämpft die Deutsche Marine um einen Platz an der Sonne, wie es im wilhelminischen Zeitalter formuliert wurde, am Vorabend des ersten Weltkrieges, als sich das Deutsche Kaiserreich an der kolonialen Aufteilung der Welt beteiligen wollte?

„Deutschland liegt am Südchinesischen Meer“ lautet die Überschrift zu einem Artikel, der kürzlich im Marineforum erschien. 

Foto: Ramon Schack - Privat

 

 

Das Marineforum ist keine offizielle Publikation der Deutschen Marine, allerdings ein einflussreiches Organ diverser Lobbyisten, des Deutsches Maritimes Institut (DMI) e.V. und der Marine-Offizier-Vereinigung (MOV) e.V.

Der Autor, des erwähnten Artikels, Hans Uwe Mergener, Kapitän zur See a.D., wird dort als Experte für Rüstung und Technik aufgeführt, glücklicherweise nicht als Experte für geographische Fragen, der regelmäßig in seinen Beiträgen die Behauptung aufstellt, die Bundesregierung sei zu nachsichtig gegenüber der Volksrepublik China.

Dieser Beitrag ist nur ein Beispiel dafür, welche geographischen Zwangsvorstellungen inzwischen in der Marine vorherrschen, die eher an ungute deutsche Traditionen erinnern, als an ein “werteorientiertes Selbstverständnis“. 

Die Meinung des Marineinspekteurs Schönbach

Auch was das Thema Meinungsfreiheit angeht, die bei hohen Militärs natürlich gewissen Einschränkungen ausgesetzt ist, steht es bei der Deutschen Marine nicht zum Besten. Marineinspekteur Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach galt bisher als loyaler Stratege der NATO-Doktrin:

Der deutsche Marineinspekteur Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach deutete am 21. Dezember in Singapur an, im Rahmen einer Veranstaltung des International Institute for Strategic Studies (IISS), dass die Fahrt der »Bayern« ein kleiner Einstieg sei.
Schon im kommenden Jahr sei geplant, die nächste Fahrt mit zwei Kriegsschiffen durchzuführen, eins davon ist womöglich vom modernsten Typ F 125, eine Fregatte, die bis zu zwei Jahre am Stück in fernen Gewässern operieren kann.
In Singapur sei deshalb schon der Aufbau eines Logistikhubs in Planung, um diese Art von Kanonenboot-Politik organisatorisch zu erleichtern. Ferner plädierte Schönbach dafür, 2023 die Taiwanstraße zu durchqueren, als handele es sich um ein Gewässer in der unmittelbaren Nähe der Bundesrepublik."

schrieb ich kürzlich dazu in einem Beitrag.

Nach halboffiziellen Äußerungen über die „Ukraine-Krise“ am Samstagabend in Indien, musste Schönbach seinen Rücktritt einreichen. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD, „Putin ins Visier nehmen“) genügte das anscheinend nicht, denn sie leitete auch noch ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein.

Der Offizier hatte bei einer Diskussion in kleinem Kreis, bei der er in Uniform auftrat, die Vorstellung, Russland wolle die Ukraine überfallen, als „Nonsens“ abgetan, und an den gesunden Menschenverstand appelliert, dass die Krim für Kiew auf Dauer verloren sei.

Damit hatte er zweifelsohne Recht, denn die Krim ist für die Ukraine verloren, ebenso wie der Kosovo für Serbien, Ostpreußen für Deutschland, Texas für Mexiko und die Inselgruppe der Kurilen für Japan.

Ferner monologisierte Schönbach, dass der Westen das „christlich geprägte“ Russland in der Auseinandersetzung mit China auf seiner Seite brauche.

Nun, dass diese Äußerungen ausgerechnet in Indien fielen und dass Herr Schönbach nicht mitbekommen hat, dass das älteste christliche Land der Welt im vergangenem Jahr mit Hilfe türkischer NATO-Drohnen von Aserbaidschan besiegt wurde, zeigt eigentlich, dass die Außen- und Verteidigungspolitik des Westens auf christliche Prägungen schon seit geraumer Zeit verzichtet.

Interessant ist hierbei, dass ähnliche Gedankenspiele in Washington zirkulieren, sogar von US-Präsident Biden aufgenommen wurden, ohne das dort Köpfe rollen:

US-Präsident Biden ist sich bewusst, dass er nicht gleichzeitig zu einer globalen Frontstellung gegen die Volksrepublik China aufrufen kann, während seine europäischen NATO-Mitgliedsstaaten an der Ost-Grenze des transatlantischen Bündnisses mit Russland beschäftigt sind. Daher wird im außenpolitischen Establishment der USA ein Planspiel entworfen, indem man Russland scheinbar entgegenkommt, um es aus der engen Partnerschaft mit China zu brechen. Ein gewisser Aaron Wess Mitchell hat dieses Szenario konzipiert:
Anstatt zu versuchen, Russland und China gleichzeitig einzudämmen, müssen die Vereinigten Staaten einen Weg finden, ihre Kämpfe mit diesen beiden Mächten zu staffeln, schlug Mitchell vor. Man könne etwa einen der beiden Gegner einzubinden versuchen, den Machtkampf gegen ihn auf die Zukunft verschieben – erst einen, dann den anderen niederwerfen. Mitchell ging verschiedene Optionen durch, war zunächst mit keiner so recht zufrieden. Aber er ist ohnehin 2019 aus der Regierung ausgeschieden. Die Biden-Regierung, so scheint es, setzt darauf, all ihre Kräfte in den Machtkampf gegen Beijing zu werfen und den Machtkampf gegen Moskau zu vertagen; die Option täte sich jedenfalls auf, käme es in den aktuellen Verhandlungen mit Russland zu einer Lösung.“

Russland Positionen gelten als Ketzerei

Nun sollte man solche Optionen nicht als der Weisheit letzter Schluss betrachten, eher als eine Verzweiflung des Westens, angesichts abnehmender strategischer Spielräume. Interessant ist hierbei aber, dass inzwischen jegliches Verständnis für russische Positionen, ja jegliche Abwägung oder Hinterfragung des westlichen Narrativs in dieser Angelegenheit als eine Art Ketzerei in einem religiösen Orden empfunden wird.

Nicht nur die Deutsche Marine befindet sich in gefährlichen Fahrwassern, auch die westliche Gesellschaft an sich, die sich inzwischen das Diktum von Mao Tse-tung "Man diskutiert nicht vor den Gewehrläufen des Feindes" zu eigen gemacht hat, in diesem Fall aber vor den selbst produzierten Feinden.

„Was heißt das für mich konkret!?“

Der Fall Schönbach ist ein Warnsignal dafür, wie stark die Nerven bei der politischen Führung in Berlin blank liegen. Wenn die Äußerungen dieses hohen Militärs, welche bis vor Kurzem noch Allgemeingut waren, und die auch in den USA diskutiert werden - was immer man von diesen halten mag - zu schrillen Säuberungsaktionen führen, dann offenbart sich hier eindrucksvoll und beklemmend zugleich, auf welch tönernen Füßen die verteidigungspolitischen Dogmen der Bundeswehr thronen.

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