Obwohl der neue West-Ost-Konflikt nachweislich von den USA mit der von ihr dominierten NATO unter Gefolgschaft der westeuropäischen Staaten verursacht worden ist,(1) räsonierte der deutsche Außenminister Heiko Maas: „…wenn Russland sich selbst immer mehr in Abgrenzung, ja teilweise Gegnerschaft zu vielen im Westen definiert, so mögen wir das bedauern. In jedem Fall aber verändert es die Realität unserer Außenpolitik.“(2) Damit befindet sich Maas im Einklang mit der von Angela Merkel nach den Vorgaben aus Washington gegenüber Russland vertretenen, wenn auch immer wieder bemäntelten, Aggressionspolitik.

„Vision“ von einer europäischen Armee

Die Kanzlerin warb am 13. November 2018 in einer Rede im Europäischen Parlament für eine weitere Militarisierung Europas im Rahmen der NATO:

„Wir müssen eine europäische Eingreiftruppe schaffen, mit der Europa auch am Ort des Geschehens handeln kann. Wir haben große Fortschritte bei der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im militärischen Bereich erreicht… Aber wir sollten – das sage ich aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre sehr bewusst – an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte europäische Armee zu schaffen… Das ist ja keine Armee gegen die NATO – ich bitte Sie –, sondern das kann eine gute Ergänzung der NATO sein… Wenn wir unser Geld effizient einsetzen wollen und doch für viel Gleiches kämpfen, dann können wir doch in der NATO mit einer europäischen Armee gemeinsam auftreten.“(3)

Die „Vision“ von einer europäischen Armee kam von dem französische Präsidenten Emmanuel Macron als Antwort auf eine angebliche Bedrohung durch Russland, „das an unseren Grenzen steht“.(4) Und ebenso wie Angela Merkel forderte er in einem ersten Schritt die Schaffung einer schlagkräftigen Interventionstruppe für Kriseneinsätze – ein geschickter Schachzug, um deutsches Militär auch für Frankreichs Kolonialkriege in Afrika zu einsetzen zu können.

Deutschland ist nach wie vor Frontstaat und Brückenkopf der USA. Abgesehen von der Stationierung amerikanischer Atomraketen in Büchel/Eifel und der Drohneneinsatzzentrale in Ramstein/Pfalz, wird in Ulm das neue Nato-Hauptquartier für schnelle Truppen- und Materialtransporte eingerichtet. Die bestehende “Nato-Speerspitze”, also die Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), die Nato Response Force (NRF) und die enhanced Forward Presence (eFP), sollen für den Konfliktfall durch weitere Truppen verstärkt werden, und zwar mit zusätzlich 30.000 Soldaten, also 30 Bataillonen, 30 Flugzeugstaffeln (das sind 360 Flugzeuge) und 30 Schiffen. Deutschland hat für diese Bereitschaftstruppe eine besondere Verantwortung übernommen. Des Weiteren ist im Gespräch, Raketenabwehrsysteme des Typs THAAD nach Deutschland zu verlegen. Hinzu kommen Pläne für Neuaufnahmen in die NATO. Etwaige Kandidaten sind Georgien, Ukraine, Makedonien, eventuell auch Schweden, Finnland, Irland, Serbien und Moldawien.(5)

Ein von den USA unabhängiges Europa

Gäbe es nicht grundlegende Vorbehalte gegen die Merkelsche und Macronsche Politik, könnten jetzt ihre Freundschaftsbekundungen ein neuer Ansatz für eine intensiveren Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich sowie auf gesamteuropäischer Ebene sein und damit der Versuch, aus der Vormundschaft der USA auszubrechen.

Der französische Staatspräsident hat am 18. November 2018 eine bemerkenswerte Rede im Deutschen Bundestag gehalten, (6) in der er sagte:

„Europa und in dessen Mitte das deutsch-französische Paar hat die Pflicht, die Welt nicht ins Chaos abdriften zu lassen und sie auf dem Weg des Friedens zu begleiten. Deshalb muss Europa stärker werden. Deshalb muss Europa mehr Souveränität erlangen. Denn Europa kann seiner Rolle nicht gerecht werden, wenn es selbst zum Spielball der Mächte wird, wenn es nicht mehr Verantwortung für seine Verteidigung und für seine Sicherheit übernimmt und sich auf der Weltbühne mit einer untergeordneten Rolle zufrieden gibt. Es gibt heute zu viele Mächte, die uns aus dem Spiel drängen möchten und dazu unsere öffentliche Debatte und unsere offene Demokratie angreifen und uns gegeneinander ausspielen. In dieser Welt, die wir sehr ernst nehmen müssen, bleibt unsere Stärke, unsere wahre Stärke die Einheit… Wenn wir unseren Mitbürgern versichern wollen, dass wir sie gegen die neuen Gefahren schützen und selbst über unsere Zukunft entscheiden können, dann brauchen wir als Europäer mehr Souveränität.“

Mit diesen Äußerungen lässt Macron – wie immer man dazu stehen mag – eine Vision für ein von den USA unabhängiges Europa aufscheinen. Allerdings ist zu bezweifeln, dass Europa überhaupt – nach seiner mehrfach geäußerten Meinung – von Russland bedroht wird. Insofern bräuchte es zwar mehr Souveränität, um seine Belange zu regeln, aber es bräuchte nicht mehr, sondern viel weniger Geld für das Militär auszugeben, um der „Verantwortung für seine Verteidigung und für seine Sicherheit“ nachzukommen. Im Vagen bleibt zudem, wie das Verhältnis zu den USA künftig gestaltet werden sollte. Es bleibt überhaupt alles im Vagen.

Was ist durchsetzbar?

Auch wenn die Freundschaftsversprechen von Merkel und Macron grundsätzlich zu begrüßen sind und ihre Pläne einer größeren „Souveränität“ Europas in die richtige Richtung weisen, sind starke Zweifel angebracht, ob und wie weit die von ihnen gegenüber den USA zu erstreitende politische und militärische Unabhängigkeit durchsetzbar ist.

Mehrmals schon hat Macron derartige Bekundungen nach massiver Kritik durch den amerikanischen Präsidenten Donald Trump wieder relativiert.(7) Und dass er zeitgleich zu seiner berührenden Rede im Deutschen Bundestag in Paris mehrere tausend Polizisten mit Knüppeln, Pfefferspray und Wasserwerfern auf hunderttausende Demonstranten losließ, die – unterstützt von drei Viertel der Bevölkerung – gegen den „Präsidenten der Reichen“ und unsoziale Maßnahmen der Regierung protestierten,(8) erweist ihn als beinharten interessengeleiteten Machtpolitiker. Soviel zum Naheliegenden.

Die entscheidende Frage bleibt, ob den Bekundungen Taten folgen und wie dieses von Zentrifugalkräften zerrüttete Europa – wäre es dann unabhängiger – wieder zusammengeführt und künftig gestaltet werden sollte. Dabei mit einer europäischen Armee beginnen zu wollen, ist symptomatisch und zeugt davon, wie verkorkst die Situation ist. Im Rahmen der NATO würde eine solche Armee den kriegslüsternen US-Militärs unterstehen, die dann uneingeschränkten Zugriff auf europäische Kampfeinheiten für ihre Interventionskriege hätten. Und außerhalb der NATO würde – nachdem die Briten aus der EU ausgeschieden sind – die Atommacht Frankreich dominieren.

Brüssel, Neoliberalismus und das Feindbild Russland

Aber es erscheint von vornherein falsch, um der Selbständigkeit Europas willen mit einer europäischen Armee zu beginnen. Es geht um viel Wesentlicheres, nämlich um eine Neubesinnung und Neuordnung Europas. Und das lässt sich nicht in der neoliberalen Diktatur, mit der es die Bevölkerung zu tun hat, durchsetzen, mit diesem Brüsseler Wasserkopf und den dort die Politik mitgestaltenden US-Netzwerken und 6.000 Lobbyvertretungen, nicht mit der herrschenden Aufrüstungshysterie, der wirtschaftlichen und militärischen Interventionspolitik und der Austeritätsvorgabe, die ärmere Länder in den Ruin treibt.

Wünschenswert wäre ein geeintes Europa der Nationalstaaten und zwar unter Einbeziehung Russlands. Erstes Ziel müsste daher sein, aus der NATO auszutreten (was unter Charles de Gaulle schon einmal geschehen ist(10)) und die Militäretats so weit wie möglich zu reduzieren, um mehr Mittel für sinnvolle Investitionen zur Verfügung zu haben. Doch dem stehen Politiker wie Macron und Merkel, die sich als militante Vertreter des Neoliberalismus und einer von den USA vorgegebenen Aggressionspolitik gegenüber Russland erwiesen haben, im Wege. Insofern ist in dieser EU, wie sie sich heute darstellt und in der die Regeln ohnehin nicht mehr beachtet werden, das Chaos vorprogrammiert.

Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2017 erschien von ihm im Westend Verlag in Frankfurt am Main das Buch „Die Eroberung Europas durch die USA – eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“.

Quellennachweise:

(1) Die Chronologie der Ereignisse entlarvt die Brandstifter. Siehe: Wolfgang Bittner, Die Eroberung Europas durch die USA, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2017.

(2) Heiko Maas, Rede zum Amtsantritt von Bundesaußenminister Heiko Maas, Auswärtiges Amt, 14.3.2018, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/bm-maas-amtsantritt/1788184, 20.3.2018.

(3) Rede von Bundeskanzlerin Merkel vor dem Europäischen Parlament am 13. November 2018 in Straßburg, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-vor-dem-europaeischen-parlament-am-13-november-2018-in-strassburg-1549538, 24.11.2018.

(4) Süddeutsche Zeitung, Macron fordert „wahre europäische Armee“, 6.11.2018, https://www.sueddeutsche.de/politik/militaer-europa-verteidigung-1.4198669, 24.11.2018.

(5) Florian Rötzer, Nato drängt auf Beitritt Georgiens zur Osterweiterung, Telepolis, 3.6.2018, https://www.heise.de/tp/features/Nato-draengt-auf-Beitritt-von-Georgien-zur-Osterweiterung-4063817.html, 20.9.2018.

(6) Emmanuel Macron, https://www.bundestag.de/blob/580034/08acc4cada11d97943a64a985d850377/kw46_volkstrauertag_gedenkrede_macron-data.pdf, 22.11.2018.

(7) Zeit Online, Trump nennt Macrons Vorschlag einer Europa-Armee “beleidigend”, 10.11.2018, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-11/gedenken-weltkrieg-donald-trump-emanuel-macron-armee-paris, 22.11.2018.

(8) ARD-Tagesschau, „Gelbwesten“ randalieren in Paris, 25.11.2018, https://www.tagesschau.de/ausland/paris-ausschreitungen-103.html, 24.11.2018. Vgl. auch: RT Deutsch, Paris versinkt im puren Chaos: „Gelbwesten“ bringen Wut der Bürger auf die Straßen, 26.11.2018, https://deutsch.rt.com/kurzclips/79931-paris-versinkt-im-puren-chaos/, 27.11.2018.

(9) DW, Merkel und Macron für Russland-Sanktionen, 21.6.2017, https://www.dw.com/de/merkel-und-macron-f%C3%BCr-russland-sanktionen/a-39351339, 22.11.2018.

(10) 1966 hatte sich Frankreich aus der Kommandostruktur der NATO zurückgezogen, weil Charles de Gaulle die Souveränität Frankreichs durch die USA beeinträchtigt sah. 2009 revidierte Nicolas Sarkozy diesen Schritt und Frankreich wurde wieder Vollmitglied.

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