Talkshow-Psychologie und NATO-Osterweiterung

Wenn es in den Massenmedien um die Psychologie Putins geht, kommen häufig ähnliche Aussagen vor: Putin wurde in der Sowjetunion sozialisiert und hätte ihren Zusammenbruch nie verkraftet. Sein Handeln rühre aus einem „Weltmachttrauma“ her.

Die Ukraine bevorzuge den westlichen Lebensstil und er sehe sich von dieser Entwicklung bedroht. Der Präsident wird dieses Jahr 70 Jahre alt. Er verspüre aufgrund seines fortschreitenden Alters einen hohen Druck, aus Russland wieder eine starke, weltweit respektierte und stolze Nation zu machen.

Solche Meinungen mögen durchaus ihre Bewandtnis haben. Eine lapidare Nennung in Talkshows mutet jedoch oft eher einer oberflächlichen „Küchenpsychologie“ an als einer tiefgreifenden Analyse. Weiter wird in diesem Kontext das Thema NATO-Osterweiterung angeschnitten. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hätten die Westmächte Gorbatschow versprochen, sich nicht weiter in Richtung Osten bzw. bis an die Grenzen Russland auszuweiten. Die Aufnahme ehemaliger Ostblockstaaten in die NATO seit 1999 wäre eine Provokation gewesen, die Putin in die Enge getrieben hätte.

Unter den Experten wird häufig diskutiert, ob es ein solches Versprechen überhaupt gegeben hat. Befürworter der NATO-Expansion verweisen darauf, dass es nie vorgekommen oder schriftlich festgehalten worden sei und es dafür keine Beweise gäbe. Unabhängig davon, ob es unterschriebene Verträge zu diesem Punkt gibt oder nicht, hat Putin sich bereits 2007 geäußert, dass er es als Provokation empfände.

Festzuhalten ist: Die genannten Äußerungen bezüglich der vermuteten Motive Putins und geopolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte stellen einen allgemeinen Tenor in westlichen Medien dar.

Demilitarisierung und Entnazifizierung

Der russische Präsident spricht im Rahmen des Ukraine-Krieges von Demilitarisierung und Entnazifizierung. Mit Demilitarisierung ist generell der Abbau des Militärs genannt. Wie etwa die Auflösung und Entwaffnung der Wehrmacht nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass die Ukraine eine konkrete Gefahr für das militärisch deutlich überlegene Russland gewesen sein sollte, erscheint sehr unwahrscheinlich.

Zudem spricht er davon, dass er das Land entnazifizieren möchte. Putin sagt, dass in der ukrainischen Regierung Nazis säßen, die den russischen Bevölkerungsteil ermordeten. Dem steht entgegen, dass der ukrainische Präsident Selenskij in einer jüdischen Familie aufgewachsen ist und Verwandte dem Holocaust zum Opfer fielen.

So nachvollziehbar das Unverständnis über Putins Äußerungen auch sein mag, bleibt die Frage, auf die der Titel dieses Beitrags abzielt: Was geht in seinem Kopf vor? Wie nimmt er die Situation persönlich wahr und wie meint er diese Aussagen?

Ein Blick auf das Jahr 2014: Der bewaffnet Ukraine-Konflikt dauert seit Februar an. Prorussische Separatisten kontrollieren die ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk. Dort kämpfen sie gegen ukrainisches Militär sowie Freiwilligenmilizen. Zu einem dieser paramilitärischen Freiwilligenbataillone zählt das „Regiment Asow“. Es wurde von nationalistischen Politikern gegründet und gilt selbst als ultranationalistisch.

Die Miliz unterhält Verbindungen zu einschlägigen rechtsextremen Gruppierungen in Deutschland. Im ZDF war damals zu sehen, dass sie mit Hakenkreuz- und SS-Symbolen an ihren Helmen und Uniformen kämpften. Ein Artikel der britischen Zeitung „The Guardian“ titelte etwa zur gleichen Zeit: „Asow-Kämpfer sind die größte Waffe der Ukraine und vielleicht ihre größte Bedrohung“. Der Artikel beginnt mit:

„‘Ich habe nichts gegen russische Nationalisten oder ein großes Russland,‘ sagt Dmitry, als wir in der dunklen Nacht in einem Pickup-Truck durch Mariupol rasen; ein Maschinengewehr-Schütze ist hinten positioniert. ‚Aber Putin ist nicht einmal Russe. Putin ist ein Jude.‘“

Dieses Beispiel zeigt, dass ideologisch geprägte Kuriositäten schon seit Beginn des bewaffneten Ukraine-Konfliktes vor acht Jahren gegeben waren. Das „Regiment Asow“ wird auf 2.500 Mitglieder geschätzt. Bei den letzten Wahlen 2019 scheiterten die nationalistischen Parteien des Landes an der Fünf-Prozent-Hürde. Mit 4,01 Prozent auch die „Radikale Partei“ von Oleh Ljaschko, eines Mitbegründers der Miliz. Von 2014 bis 2019 stellten sie noch den Vize-Ministerpräsidenten.

Vielleicht nimmt Putin die Situation in seiner Wahrnehmung vor diesem Hintergrund verzerrt wahr – oder vielleicht bauscht er sie gänzlich bewusst auf, um einen Kriegsgrund zu kreieren.

Intellektuelles Bollwerk gegen den Westen

Im September 2012 wurde in Russland die Denkfabrik namens „Isborsk-Klub“ gegründet. Ihr gehören mehrere nationalistische und traditionsbewusste Intellektuelle aus Politik, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft und Sicherheitsapparat an. Das ehemalige Wehrdorf Isborsk befindet in der Nähe der estnischen Grenze. In der Burg „Staryi Isborsk“ fand das erste Treffen des Think Tanks statt. Die Festung stand schon im spätmittelalterlichen Russland (Moskowiter Zeiten) für die Verteidigung vor Einflüssen aus dem Westen – was auch das Wesen des Clubs widerspiegelt.

Mehrere Mitglieder verfassten im Jahr 2013 einen Report zum Isborsk-Klub und seinen Ideen. Sie bezeichnen sich als eine Art Hauptquartier patriotischer Kräfte des modernen Russlands. Sie heben idealistisch und pathetisch Russland und seine Traditionen hervor, die trotz der bewegten und von Gegensätzlichkeiten geprägten Geschichte des Landes unumstößlich seien.

In dem Papier wird sogar darauf eingegangen, dass die Sicht Russlands und des Westens in Hinblick auf den "Sinn des Lebens" abweiche. Dieser liege für Russland darin, dass der Kollektivismus wichtiger sei als der Individualität betonende Liberalismus im Westen. Der Isborsk-Klub ist die Verkörperung der kollektivistisch-nationalistischen Glaubenssätze Russlands.

Der gefährlichste Flüsterer der Welt

Ein Mitglied des Isborsk-Klubs ist der Philosoph, Politologe und Publizist Alexandr Dugin. Er propagiert den „Neo-Eurasismus“, eine antiwestliche und antiliberale Ideologie mit radikalen und autoritären Zügen. Sie entstand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Dugin war ihr Vordenker.

Der historische Eurasismus geht auf die Exilbewegung der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Sie lehnte die Sowjetunion ab und wollte stattdessen ein autoritäres, imperiales, russisches Großreich, das Eurasien dominiert. Der heutige „Neo-Eurasismus“ fordert eine klare und entschiedene Opposition zu einem US-amerikanischen Kulturimperialismus. Bündnisse mit Staaten Kontinentaleuropas sowie Klein-, Zentral- und Ostasiens schweben dieser Ideologie vor.

Das in der US-Außenpolitik renommierte Magazin „Foreign Affairs“ nannte Dugin 2014 im Zusammenhang mit Russlands Einmarsch auf der Krim „Putins Brain“. Die US-Nachrichtenseite „Daily Beast“ und der Sender „Fox-News“ nannten ihn den gefährlichsten Philosophen bzw. Menschen der Welt. Dazu trugen vor allem blutrünstige Aussagen während des Georgien-Krieges 2008 und des Ukraine-Konflikts bei. Beispielsweise sagte er 2014, alle Ukrainer müssten die Vertreter der „Kiewer Junta“ „töten, töten, töten – ich sage das als Professor!

Dugin hat häufig von sich behauptet, dass er die Regierung berate. Offizielle Beweise, dass er für den Kreml tätig war, gibt es nicht. Die russische Führung hat sich in Hinblick auf ihn immer betont distanziert gezeigt. Womöglich waren seine Aussagen zu martialisch und damit Image-gefährdend.

Und wie groß ist sein Einfluss auf Putin? Die „Frankfurter Allgemeine" bezeichnete Dugin als „Putins Einflüsterer“ und dass der Präsident auf diesen Mann höre. Dugin selbst hat aber auch schon häufiger bestritten, Putin zu kennen. Dass er Mitglied im Isborsk-Klub ist, könnte ein Indiz dafür sein, dass sie trotz widersprüchlicher Informationen ein vertrautes Verhältnis zueinander haben.

„Was heißt das für mich konkret!?“

Der Ukraine-Krieg löst Furcht und starke Unsicherheitsgefühle aus. Mit einer historisch vergleichbaren Situation war Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr konfrontiert. Ein besseres Verständnis für die Handlungen Putins zu entwickeln, kann dem entgegenwirken. Gesellschaftlich ist es ein hochemotional behaftetes Thema. (An dieser Stelle möchte der Autor hier deshalb eine klare persönliche Bemerkung einfließen lassen: Es geht nicht darum, Russland anzugreifen oder Putin zu verteidigen. Sondern darum, die Situation besser zu verstehen, um die Ereignisse besser einordnen zu können.)

Viele Politiker sagen, dass sie Putin über die Jahre total falsch eingeschätzt hätten. Es gibt Behauptungen, dass er einem irrationalen Wahn verfallen und gar verrückt geworden sei. Sie müssten ihre Meinungen ihn betreffend überdenken. Das gilt auch für den politisch interessierten Bürger. Bezüglich der Tragweite der Geschehnisse wohl sogar für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Planeten. Die politischen Glaubenssätze der Akteure an der Führungsspitze zu verstehen, ist dafür elementar. Den Isborsk-Klub in die Überlegungen einzubeziehen, kann einen zentralen Faktor darstellen.

Der Begriff „Putinversteher“ galt lange Zeit als eine Art Synonym für „Putin-Sympathisant“. Eine sorgfältige Analyse der Person setzt eine sachliche Vorgehensweise voraus. Das bedeutet keinesfalls automatisch, ihm zuzustimmen. Zudem ist das Betrachten aus dem Blickwinkel historischer Entwicklungen auch dazu geeignet, sie mit mehr Distanz zu betrachten.

Für die Leserinnen und Leser, die mehr über die Rolle Dugins in Russland erfahren möchten, sei auf folgenden Artikel hingewiesen: Die griechische Eule und der russische Bär – Teil 2: Putins weiche Macht in Eurasien

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