In meinem letzten Beitrag der vorliegenden Trilogie zur offenen Gesellschaft habe ich die vier Plagen thematisiert, die den Rechtsstaat und unsere offene Gesellschaft aufzehren: Szientismus statt Wissenschaft, Postmoderne und Postmarxismus statt universellem Vernunftgebrauch mit gleichen Rechten für alle, Fürsorgestaat statt Rechtsstaat und Lenkungswirtschaft statt Marktwirtschaft. Wie kommen wir aus dieser Abwärtsspirale wieder heraus? Jeder Einzelne ist hier gefordert. Zumindest drei Schritte sind erforderlich:

1) Urteilskraft

Urteilskraft ist die Fähigkeit, sich ein Urteil zu bilden in dem Sinne, eine Situation angemessen in ihrem Kontext einzuschätzen und verhältnismäßig auf sie zu reagieren. Die Urteilskraft bringt damit Anschauung – die Wahrnehmung einer gegebenen Situation – und Begriff – die Einordnung dieser Situation – zusammen. Die politischen Reaktionen auf die Corona-Virenwellen und den Klimawandel sind ein beispielloses Versagen von Urteilskraft. Wir dürfen uns nicht von angeblichen Experten entmündigen lassen. Jeder von uns hat die Fähigkeit und die Befugnis, sich ein eigenes Urteil über die Situation in seiner Umgebung zu bilden und angemessen zu handeln. Das tun wir alle im Alltag ständig, und das können wir auch in Bezug auf die Herausforderungen unserer Zeit tun.

Der Jurist Carlos A. Gebauer bringt das Versagen von Urteilskraft in der Corona-Zeit prägnant so auf den Punkt:

Der Unterschied zwischen einer tatsächlich erwiesenen Pandemie und einer nur diskursiv angenommenen wird in der staatlichen Gesetzgebungsreaktion erkennbar. In einer nur angenommenen Pandemie wird Bürgern verboten, ihre Häuser zu verlassen. In einer tatsächlichen Pandemie dagegen müsste ihnen nach Berufsgruppen geboten werden, zur Arbeit zu gehen. (siehe ef-magazin.de)

Wenn die Regierung die Menschen in ihren Häusern einsperrt und ihnen soziale Kontakte untersagt, dann sieht man daran, dass die Behauptung einer außerordentlichen, gefährlichen Lage, die schnelles staatliches Handeln auch über die grundlegenden Rechte von jedem von uns hinweg erfordert, falsch ist. Denn wenn ein solches Verhalten wirklich der Situation angemessen wäre, würden die Menschen es von selbst entwickeln. Wenn wir sehen, dass Menschen, die ihrem normalen sozialen Leben nachgehen, erkranken, ins Krankenhaus kommen und vielleicht sogar sterben, dann warten war nicht auf Anweisungen vom Staat, sondern passen unser Verhalten von selbst an. Wenn wir das nicht sehen, dann gibt es in unserer Umgebung auch keine außerordentliche Gefahr. Lassen Sie sich nicht bevormunden von angeblichen Experten, die vom Staat bestellt sind, um Ihnen Ihre Rechte zu nehmen. Wenden Sie Ihre eigene Urteilskraft auf die jeweilige Situation bei Ihnen vor Ort an. Sie können das.

2) Skepsis gegenüber Machtkonzentration

Jede Machtkonzentration neigt zu Missbrauch. Die größte Gefahr geht von der Machtkonzentration beim Staat aus. Nur die Polizei und das Militär in der Hand der jeweiligen Staatsgewalt können uns zu etwas zwingen. Wissenschaftler, Intellektuelle, große Konzerne und supranationale Organisationen wie die WHO können nur reden. Sie können uns nichts aufzwingen. Das kann nur derjenige, der uns die Polizei ins Haus schicken kann. Es genügt daher nicht, den ideologischen Überbau von Szientismus, Postmoderne und Postmarxismus wegzuschaffen. Wir müssen auch – und in erster Linie – den realpolitischen Unterbau des überbordenden Staates angehen. Dazu wiederum ist dreierlei erforderlich:

(i) kein Ausnahmezustand

In der Demokratie ist das Volk Souverän. Das stimmt aber trotz allem Gerede von Demokratie seitens der herrschenden Eliten und ihrer Claqueure bei uns nicht. Denn Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt (diese Feststellung wird dem Staatsrechtler Carl Schmitt zugeschrieben). In diesem Sinne ist die Regierung souverän: Sie kann nach ihrem Belieben völlig legal einen Ausnahmezustand verhängen, in dem die Grundrechte ausgesetzt sind. Die Grundrechte gelten also nur unter dem Vorbehalt, dass die Regierung keinen Ausnahmezustand deklariert. Einen Anlass dazu kann sie aber immer finden: Virenwellen, die von Anfang an nachweislich keine außerordentliche Gefahr darstellten; Klimawandel, an den wir uns ohne Weiteres anpassen können (in den letzten 100 Jahren ist die Zahl der Todesopfer durch extreme Wettereignisse um 90% zurückgegangen, trotz des – tatsächlich bestehenden – Klimawandels). Souverän ist das Volk nur dann, wenn die Grundrechte nicht einfach durch die Regierung ausgesetzt werden können, das heißt, unbedingt und damit absolut gelten. Wir müssen also die entsprechenden gesetzlichen Möglichkeiten für die Regierung, legal nach ihrem Ermessen einen Ausnahmezustand zu deklarieren und die Grundrechte auszusetzen, beseitigen.

(ii) kein Fiat-Geld

Wenn die Regierung über das Geldmonopol verfügt und Geld einfach drucken lassen kann (durch Schuldenaufnahme finanziert gegebenenfalls durch die Zentralbank), dann kann sie alles kaufen. Das Geldmonopol durch Fiat-Geld muss daher fallen. Die realen Kosten der staatlichen Maßnahmen müssen transparent sein. Das Corona-Regime und das Klima-Regime wären ohne die Möglichkeit für die Regierungen, beliebig Geld in den Umlauf zu bringen, nicht möglich gewesen, weil die Bürgerinnen und Bürger dann die Kosten dieser Regime unmittelbar in ihrem Portemonnaie gespürt hätten.

Fiat-Geld ist nicht in Stein gemeißelt. Es besteht erst seit 1971, als US-Präsident Nixon die Bindung des US-Dollars an Gold aussetze, um Krieg nach außen (Vietnam-Krieg) und Fürsorge nach innen (die „great society“) zu finanzieren. Seitdem haben die Fiat-Währungen wie US-Dollar und DM/Euro über 98 % ihres Wertes in Gold verloren: 1971 kostete eine Feinunze Gold 35 US-Dollar. Heute sind es über 2500 US-Dollar. Der Euro ist eine sehr gute Idee – aber nicht als Fiat-Währung unter beliebiger Verfügung der Regierungen, sondern als gemeinsame Währung, die an einen Sachwert gebunden ist, den niemand manipulieren kann, wie früher der Goldstandard (siehe dazu das hervorragende Buch von Philipp Bagus, Die Tragödie des Euro).

(iii) kein Zwangsdienst

Wenn die Regierung Zwangsdienst verhängen kann, dann kann sie sich beliebig an Kriegen nach außen beteiligen („Wehrpflicht“) und nach innen ihre Bevormundung der Menschen aufrechterhalten, auch wenn der Fürsorgestaat an seinem Schuldenberg zusammenbrechen sollte: Was unter so wohlklingenden Namen wie „Zivildienst“ oder „soziales Jahr“ verkauft wird, ist in Wirklichkeit nichts anderes als vom Staat angeordnete Zwangsarbeit, um den staatlichen Machtapparat aufrechtzuerhalten. Die wieder aufgeflammte Debatte über eine so genannte Wehrpflicht, die auch Parteien befürworten, die klar und standfest in ihrer Ablehnung der Corona-, Klima- und Wokismus-Regime sind, ist daher völlig fehl am Platze: Es geht hier nur um die Ausweitung der Macht des übergriffigen Staates noch über die Portemonnaies und Lebensgestaltung der Bürger hinaus zur Verfügung über ihre Lebenszeit.

Hieran wird deutlich: Lediglich gegen die Ideologien von Corona, Klimawandel und Wokismus anzugehen, wird höchstens zu einem Pyrrhussieg führen. Um unsere Grundrechte auf freie Lebensgestaltung wieder zu gewinnen, müssen wir den übergriffigen Staatsapparat auf seine Kernaufgabe der Gewährleistung von Rechtssicherheit zurückfahren – das heißt, überhaupt wieder Rechtssicherheit bekommen.

3) Mut zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft

In seinem berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ unterscheidet Immanuel Kant 1784 zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft. Der private Gebrauch ist eingeschränkt zum Beispiel durch Arbeitsverträge. Der öffentliche Gebrauch ist hingegen immer frei. So – das ist Kants Beispiel aus seiner Zeit – muss der Prediger, der von einer Kirche angestellt ist, in der Ausübung seines Amtes den Gläubigen die Lehre dieser Kirche verkünden. In seinem öffentlichen Vernunftgebrauch ist er jedoch frei, als Bürger auch eben diese Lehre öffentlich zu kritisieren. Auf unsere Zeit übertragen: Als Bürger kann man zum Beispiel die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes öffentlich als Rechtsbeugung kritisieren, ohne in irgendeiner Weise seine Bürgerpflichten zu verletzen und Anlass zur Überwachung durch den Inlandsgeheimdienst zu geben – ja es ist geradezu Bürgerpflicht, dieses zu tun und seine Gründe für diese Auffassung in der Öffentlichkeit darzulegen. Nur durch den freien öffentlichen Gebrauch der Vernunft ist nach Kant Aufklärung und Fortschritt in Rechtssicherheit möglich. Uns hingegen ist die Bedeutung des freien öffentlichen Vernunftgebrauchs abhandengekommen.

Nur wenn genügend Menschen den Mut aufbringen, trotz der Einschüchterungsversuche durch den Staatsapparat freien öffentlichen Gebrauch von ihrer Vernunft zu machen, werden wir eine offene Gesellschaft mit der Anerkennung der Rechte aller realisieren. Die Zukunft ist offen. Es liegt allein an uns, den Kompass unserer Zivilisation zurückzugewinnen. Wie der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus gezeigt hat, kann sich kein Zwangsregime auf Dauer gegen den Mut der Bürgerinnen und Bürger halten, öffentlich für ihre Rechte einzutreten.

 

Anmerkung der Redaktion & „Was heißt das konkret für mich?“

Prof. Michael Esfeld ist Autor des Buches „Land ohne Mut: Eine Anleitung für die Rückkehr zu Wissenschaft und Rechtsordnung“. Seine obige Analyse macht deutlich: Auch wenn grundlegende Veränderungen kollektive Prozesse erfordern, beginnt der Weg dorthin bei jedem Einzelnen. Nur, wenn jeder aktiv daran mitwirkt, die offene Gesellschaft wieder zurückzuerobern, können die notwendigen kollektiven Prozesse in Gang gesetzt und unsere Freiheit zurückgewonnen werden:

  1. Selbst urteilen: Üben Sie sich darin, eine Situation eigenständig und angemessen einzuschätzen, statt sich nur auf Experten zu verlassen. Diese Urteilskraft ist entscheidend für eigenverantwortliches Handeln – sei es bei Gesundheitsfragen oder gesellschaftlichen Themen.

  2. Macht kritisch betrachten: Sehen Sie genau hin, wenn staatliche oder wirtschaftliche Akteure Macht über das öffentliche Leben gewinnen. Skepsis schützt vor Übergriffen und Missbrauch.

  3. Öffentlich Position beziehen: Nutzen Sie Ihre Stimme für die freie Meinungsäußerung und gegen Einschränkungen. Nur durch Mut zur Vernunft und offenen Dialog können wir die Werte der Gesellschaft aktiv schützen und stärken.

Diese Schritte machen den Weg zurück zu einer freien, offenen Gesellschaft für jeden Einzelnen konkret und greifbar.

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