Es gibt viele Berliner-Zugezogene ebenso wie Alteingesessene, die behaupten, der Crellekietz in Berlin-Schöneberg sei der schönste aller Kieze in der Hauptstadt.

Sicher ist auf jeden Fall, dass dieser Ort im Sommer mit seiner vielfältigen Gastronomie - in teilweise aufwendig sanierten Jugendstilbauten - zahlreiche Besucher anzieht, dabei aber trotzdem nichts von seinem ruhigen und beschaulichen Flair verliert.

Am gestrigen Abend allerdings, trotz frostiger Witterung, hatten sich mehrere hundert Menschen auf den Marktplatz an der Schöneberger Crellestaße, direkt am S-Bahnhof Yorckstraße/Großgörschenstraße versammelt, um eine Wahlkampfveranstaltung der besonderen Art zu besuchen.

Sahra Wagenknecht war dort als Hauptrednerin auf der Kundgebung der LINKEN Tempelhof-Schöneberg unter dem Motto "Wir fordern Heizung, Brot und Frieden" zu Gast.

Wenn man sich über das Verhältnis des Berliner Landesverbandes der Linken zu Frau Wagenknecht informieren möchte, fällt einem auf, dass führende Mitglieder der Berliner Linken im Vorfeld medienwirksam gegen den Auftritt polemisierten.

"Linken-Demo gegen Wagenknecht-Auftritt: „Sahra, lass das Schwurbeln sein“

Wagenknecht und die Berliner Linke sind sich in vielen Fragen uneinig. Ein Bezirksverband lässt sie dennoch heute bei einer Kundgebung auftreten. Dagegen regt sich Protest."

hieß es beispielsweise in der Berliner Zeitung.

Die groß angekündigte Gegendemonstration bestand dann allerdings aus sechs Leuten, die in der Menge förmlich untergingen. Was das alles aber für das Ansehen der Partei bedeutet, beantwortete ein Anwesender Aktivist wie folgt.

"Der Berliner Landesverband betreibt politisches Harakiri in Zeiten einer existenzbedrohenden Krise unserer Partei. Es ist das eine, ob man verschiedene Auffassungen darüber vertritt, welche inhaltlichen Schwerpunkte die LINKE setzen sollte. Es ist aber etwas ganz anderes, die Partei mit der Brechstange auf den eigenen Kurs runter zu schrumpfen, in dem alle Andersdenkenden mit selbstgerechter Abgrenzung verdrängt werden."

Richtig ist hierbei, dass die Linke in den Umfragen sinkt, das gilt auch für die Wahlen in Berlin, während Frau Wagenknecht zu den beliebtesten Politikerinnen in Deutschland aufgestiegen ist.

Die Gastgeber, der Bezirksverband der Linken in Tempelhof-Schöneberg, gehört zu den Unterstützern von Sahra Wagenknecht, weshalb die dortigen Direktkandidaten, Frederike Benda und Alexander King zum Beispiel, der bekannten Politikerin gerne eine Plattform bieten.

Den anwesenden Anhängern von Wagenknecht schien das alles nichts auszumachen, was auch daran liegen mochte, dass diese nur zum geringen Teil aus der klassischen Wählerschaft der Linken zu stammen schienen.

Alexander King kündigte seinen prominenten Gast dann auch als eine Politikerin an, "die sich nicht danach ausrichtet, was der Mainstream vorgibt...", womit er ohne Zweifel Recht hatte und tosenden Beifall erntete. "Ruhe - Sahra spricht" rief ein Zuhörer, als Frau Wagenknecht ans Mikrofon trat, bekleidet mit einem langen schwarzen Wintermantel, von zeitloser Eleganz, der ihr aber auch äußerlich die Aura einer politischen Mutter Theresa verlieh, eine Rolle die nun gar nicht zu passen scheint, wenn man sich die politische Biographie dieser Frau verinnerlicht. 

Bildrechte: Evelin Genzel

Beim Blick über die Menge waren Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, aller Altersgruppen und der unterschiedlichsten Herkunft zu erkennen.

"Frieden, soziale Gerechtigkeit, alles Themen die eigentlich von SPD, Grünen und Linken vertreten werden sollten. Aber diese Frau ist ein politisches Talent, sie hat alles durchdacht. Ich würde Sahra Wagenknecht auch wählen, wenn sie eine eigene Partei gründen sollte, vielleicht sogar mitmachen. Bis dahin bleibt mir nur die Linke, notgedrungen."

erklärte Kamerafrau Alexandra, 29 Jahre jung, auf ihr Interesse an der prominenten Rednerin angesprochen.

Marcel, ein Fliesenleger von Mitte 30, betonte: "Früher hab ick CDU jewählt, aber dit is vorbei, wa!"  

Erika, eine 56-jährige Diät-Assistentin, äußerte diesbezüglich:

"Beim letzten Mal hab´ ich die Grünen gewählt. Dafür schäme ich mich, diese Kriegstreiber und angeblichen Umweltschützer. Ich bin auch nicht sicher, ob ich eine klassische Linke bin. Aber eines weiß ich, die Wagenknecht würde ich wählen, egal für welche Partei die Dame auch antritt."  

Erika gehörte dann auch zu den Besuchern, die besonders heftig Beifall spendeten, als Wagenknecht äußerte: "Gestern haben Sie noch den Wehrdient verweigert, heute kennen Sie alle Panzertypen auswendig", wobei die Anwesenden natürlich wussten, welche Politiker und Parteien damit gemeint waren.

Knapp 20 Minuten dauerte der Redebeitrag, eine Art Tour D´Horizon, ein Gegenprogramm zu dem bleiernen Narrativ, welches sich über das Land gelegt hat, seit Beginn dieses Krieges.

Allerdings konnte auch Frau Wagenknecht eine Frage nicht beantworten, die Frage, die förmlich über der Veranstaltung schwebte: weshalb man eigentlich die Linke noch wählen sollte, da Wagenknechts Thesen dort nicht mehrheitsfähig sind, zumindest was die Funktionärs-Eliten angeht. "Eines ist sicher", raunte Kurt, ein 56-jähriger Lehrer für Englisch und Geschichte,

"wenn nicht bald so etwas wie eine Wagenknecht-Partei gegründet wird, sehe ich schwarz, dann sahnt die AfD nämlich ab, angesichts der Katastrophe, welche uns die Ampel beschert!"

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