Inzwischen verfügt der Stadtstaat bereits über vier Flughafenterminals, die Besuchern aus aller Welt als Eingangstor zum Geschäfte- oder Urlaubmachen dienen. Es fällt sofort ins Auge, wie sauber es hier ist und auf welch überaus durchdachte Weise das limitierte Platzangebot genutzt wurde, indem baulich eine infrastrukturelle und architektonische Meisterleistung vollbracht wurde.

Einst britische Kolonie sowie vor und während des Zweiten Weltkriegs das durch die die Briten auserkorene Abwehrbollwerk gegen die militärisch überall in Südostasien einfallenden Japaner, wächst Singapur heutigentags immer schneller in die Höhe, weil es schlichtweg an Platz mangelt, um einer wachsenden Bevölkerung ausreichend Wohnraum zu bieten.

Es ist egal, auf welche Weise sich der ausländische Besucher vom im fernen Osten gelegenen Changi-Flughafen auf seinen Weg in die Innenstadt oder den Westen aufmacht – der entsprechende Pfad ist bereits vorgezeichnet. Der Besucher wird auf allen infrastrukturellen Ebenen geleitet, ja sozusagen in die entsprechende Richtung dirigiert.

Angefangen bei den Flughafenmitarbeitern bis hin zum überall zu verortenden Sicherheitspersonal wird in der ehemaligen britischen Kolonie auf Freundlichkeit gegenüber Gästen großen Wert gelegt. Ich entscheide mich dazu, die Metro (MRT) zu nutzen, um mich in die etwa 70 Minuten MRT-Fahrzeit entfernt gelegene Westseite Singapurs aufzumachen.

Schon nach kurzer Zeit wird mir deutlich bewusst, auf was in Singapur größter Wert gelegt wird. Es handelt sich hierbei um die uneingeschränkte Befolgung der durch die Regierung und deren staatliche Behörden in hoher Anzahl lancierten Gesetzesverordnungen, Restriktionen und Verbote.

Wer diese allerorten mittels Hinweis- und Warnschildern aufgestellten Gesetzesregeln bricht, wird zu einer Zahlung von nicht selten enorm hohen Geldstrafen an Ort und Stelle verurteil oder kann – abhängig von der Schwere der Gesetzesübertretung – gar im Gefängnis landen.

Selbst für „Kleindelikte“ wie das Wegschnippen eines Zigarettenstummels oder dem Fallenlassen von Plastikpapier werden Strafzahlungen in Höhe von 300 Singapur-Dollar (nach aktuellem Kurs ungefähr 195 Euro) fällig. Mancherorts – wie im folgenden Bild aus dem Stadtteil Holland Village dokumentiert – werden Strafen in Höhe von 2.000 Singapur-Dollar für bloßes Rauchen erhoben.

   

Wer nicht an Ort und Stelle nach einer „Deliktüberführung“ zahlen kann, sieht den eigenen Ausweis oder Reisepass durch die zahlreichen in Zivil umherschweifenden Kontrolleure, die über recht weitreichende Befugnisse verfügen, konfisziert, was nicht heißt, dass derartige „Delikte“ nicht auch durch normale Streifenbeamte in Uniform entsprechend geahndet werden.

Niemand sitze in Singapur dem falschen Glauben auf, sich im öffentlichen Raum auch an nur einem einzigen Ort unbewacht bewegen zu können. Es ist nämlich nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, sich den Tausenden von Überwachungskameras (CCTV), die an jeder Straßenecke ihren unauffälligen Dienst verrichten, zu entziehen.

In der MRT Platz nehmend, dauert es nach Fahrtaufnahme sodann auch nicht lange, bis eine in bestimmten zeitlichen Intervallen wiederholende Bandansage ertönt, um die Bevölkerung dazu aufzurufen, ein sensibles Auge auf die in der unmittelbaren Umgebung vor sich gehenden Dinge zu werfen und jederzeit „wachsam“ zu sein. Ein hierzu in der MRT geschossenes Bild dokumentiert dies in Schriftform wie folgt:

   

Es heißt in der Bandansage wörtlich: „Bitte halten Sie Ausschau nach sich verdächtig verhaltenden Personen sowie verdächtigen Gegenständen im Zug, am Fahrbahnrand und den MRT-Stationen. Melden Sie unserem Sicherheitspersonal etwaige Vorkommnisse oder Beobachtungen bitte ohne Zeitverzögerung an der nächsten Bahnstation. “

Tja, ich stelle mir automatisch die Frage, was es mit dem Begriff „verdächtig“ in diesem Kontext auf sich haben mag. Es handelt es sich meiner Vermutung nach um ein recht weites Auslegungsfeld, das schon dabei beginnen mag, wenn sich eine Person oder ein Fahrgast an der Gleisplattform wartend in ein Selbstgespräch verstrickt sieht.

   

Wie dem auch sei, eine Antwort auf diese Frage erübrigt sich, da Polizeikräfte und privates Sicherheitspersonal im aufgeräumten Stadtstaat über allumfassende Befugnisse verfügen, so dass man deren investigative Aufmerksamkeit lieber nicht auf sich ziehen sollte.

Es dauert nicht lange, bis ich mutmaße, dass sich hinter der Fassade der Freundlichkeit unter den kommunal-staatlichen Mitarbeitern, die durch und durch darauf getrimmt sind, über die penible Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften eines real existierenden Polizei- und Überwachungsstaats zu wachen, eine große Genugtuung befinden mag, als Teil des Sicherheitsapparats alles Notwendige in die Waagschale zu werfen, um die heimische Bevölkerung zu Sittsamkeit und Ordnung zu erziehen.

Im Stadtstaat Singapur wird jeder Bürger zur Ordnung erzogen, um administrative Vorgaben auf penibelste Art und Weise einzuhalten (fotografiert im Stadtteil Clarke Quay).

Das Gros der Stadtstaateinwohner erweckt bei mir aus dieser gedanklichen Perspektive heraus den Eindruck, sich diesen gesetzlichen Vorgaben zu jedem Zeitpunkt folgsam zu beugen, beziehungsweise bloß nicht aus der Masse herauszustechen und der gesellschaftlichen Norm zuwider zu laufen. Anders ausgedrückt heißt das, dass es aus meiner Sicht überaus brav im Stadtstaat zugeht.

Während meinen Beobachtungen kommt mir der Gedanke, dass einer Denunziation des eigenen Nachbarn und Mitbürgers auf diese Weise Tür und Tor geöffnet wird. Der MRT-Station Buona Vista zustrebend, schweifen meine Gedanken bei einem stetigen Blick aus dem Fenster dem einstmals politisch hoffähigen Faschismus und Kommunismus in Europa zu.

In etwa auf diese Weise könnte sich gegenseitige Denunziation, die einstmals offiziell zu Jedermanns Bürgerpflicht erhoben wurde, auch im einstigen Hitler-, Mussolini-, Antonescu-, Stalin- oder DDR-Staat zugetragen haben. Glücklicherweise werden die in den Fängen des Polizeistaats Singapur landenden Opfer heute nicht in ein Umerziehungs- oder Arbeitslager gesteckt, wobei allerdings zu betonen ist, dass Gesetzesbrechern drakonische Strafen drohen.

Wie dem auch sei, ich möchte nicht gleich nach meiner Ankunft anhand meines ersten Eindrucks urteilen, um meinen weiteren Beobachtungen ein paar Tage mehr Zeit zu geben. Dazu zu einem späteren Zeitpunkt mehr. Nach zweimaligem Umsteigen bin ich endlich an meinem Fahrtziel angekommen.

Vielleicht ist es mehr als nur ein Zufall, dass ich nach vielen Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben, auf der bequemen Couch eines alten Schulfreundes lande, der heute mit seiner gebürtig malaysischen Frau nur einen Katzensprung entfernt vom immergrün-tropischen Labrador-Park im Westen Singapurs lebt.

    

Schön ist es hier. Keine Frage. Es handelt sich um eine der besten „Residential Areas“ im Stadtstaat, gerade einmal zwei MRT-Stationen von der durch ausländische Touristen aufgesuchten Erlebnis- und Spaßinsel Sentosa entfernt. Ray ist gebürtiger Japaner mit singapurischem Zweitpass.

So wie ich meinen alten Freund schon damals kannte, wundert es mich keineswegs, dass Ray nach Aufenthalten an den verschiedensten Orten dieser Welt aufgrund seines Ehrgeizes, seines kulturellen Erfahrungsreichtums sowie seiner geschäftlichen Gerissenheit und Schlitzohrigkeit ein Vermögen im Ex- und Importhandel gemacht hat, um in Singapur zusammen mit seiner Frau die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen.

Ich freue mich über dieses Wiedersehen und vor allem über die spontane Einladung, über die Neujahrszeit ein paar Tage mit meinen Gastgebern verbringen zu dürfen. Und so dauert es auch nur bis zum Abend meiner Ankunft, bis wir uns bei reichlichem Bierkonsum auf der ausladenden Terrasse dieses Anwesens wiederfinden, um über alte Zeiten und das Jetzt zu sprechen.

Im Gartenteich tummeln sich rund zwei Dutzend Koi-Fische. Das Grün des Rasens schimmert in verschiedenen Farben von im umliegenden Buschwerk ausgestellten Dekorleuchten, was für eine ausgesprochen angenehme Atmosphäre sorgt. Als wir in unserem Gespräch im Jetzt ankommen, dünkt es mich selbstverständlich, mehr über die gesellschaftlichen Konventionen und den überall präsenten Überwachungsstaat in Erfahrung zu bringen.

Ob es denn korrekt sei, eine Gedankenlinie zwischen meinen Beobachtungen in Singapur und dem allumfassenden Überwachungsstaat in einstmals faschistischen oder kommunistischen Nationen zu ziehen. Oder handele es sich hierbei um eine Überreaktion und gedankliche Übertreibung, wie ich von Ray gerne wissen möchte.

Hinweistafel im Labrador Park: Melden Sie alles, was Ihnen auffällig oder verdächtig vorkommt.

   

Weißt Du, Du hast noch gar nichts gesehen. Fangen wir doch einfach mal bei uns an. In unserer Nachbarschaft sind wir seit jenem Tag, als wir hier einzogen, Tagesgespräch. Unsere größtenteils doch recht betagten Mitanwohner stellen sich nämlich die Frage, wie ein Typ in meinem Alter es sich leisten kann, in einer solchen Hütte zu wohnen.“

Da werden allerlei Überlegungen angestellt“, so Ray. „Es ist noch nicht allzu lange her, dass uns jemand aus der Nachbarschaft „gemeldet“ hat. Eines Morgens klopfte es an der Tür, und vor unserem Eingang war alles voll von Polizeikräften. Glaubst Du, dass die einen gerichtlichen Durchsuchungsbefehl brauchen würden, um unser Haus auf den Kopf zu stellen?“, wie Ray fragt.

Wenn Du das annimmst, dann lass Dich eines Besseren belehren. Die brauchen hier überhaupt nichts. Wenn Du nicht Deine Bereitschaft zur vollumfänglichen Kooperation zeigst, hast Du zwei Stunden später auf Deinem Grund und Boden obendrein auch noch Beamte aus allen möglichen anderen Behörden herumspringen, die Dein Haus von oben bis unten mit auf den Kopf stellen. Dann fängt der Spaß erst richtig an.“

   

Einen gerichtlichen Durchsuchungsbefehl besorgen die sich einfach nachträglich nur kurze Zeit später - und dann ist erst richtig Feuer unter dem Dach.“ Um welchen Vorwurf es denn gegangen sei, möchte ich von Ray wissen. Oh, wie mir entgegnet wird, habe ihn ein Nachbar bei den Behörden gemeldet, weil seine Küche angeblich nicht richtig gesäubert worden sei.

Dies habe dazu geführt, dass sich Ratten und mitunter Dengue-Fieber übertragende Moskitos in der Umgebung breit gemacht hätten. Er habe die Ordnungskräfte also gewähren lassen, wobei sich im Laufe der polizeilichen Investigationen herausgestellt habe, dass ein mit Müll beladener Lastwagen vor wenigen Tagen auf der Hinterseite des Anwesens einen Teil seines Transportguts verloren habe.

Und damit waren wir aus der Sache raus“, wie mir Ray entgegen lächelt. Trotz allem säubere er seine Küche seit jenem Tag mit Spezialreinigern, da ihm der Schock noch immer in den Gliedern sitze. „Wie Du selbst siehst, befinden sich Straßen- und CCTV-Kameras auch in unserer Residential Area an jeder Ecke. Diese Kameras werden größtenteils mittels Solarzellen betrieben, und fallen niemals aus.

     

Mittels des wachsamen Auges des Staates lässt sich jedes noch so kleine Ereignis über viele Jahre nachvollziehen. Wer in Singapur einen Bankraub plane, müsse entweder verrückt oder lebensmüde sein, so sein Fazit. Welchen Anreiz haben Anwohner denn eigentlich, Nachbarn bei den Behörden zu melden, wie ich gerne wissen möchte.

Oh, das ist ganz einfach“, wie mir Ray entgegnet. Jemand, der den Behörden etwas „Verdächtiges“ meldet, partizipiert mittels einer finanziellen Belohnung, wenn das Anschwärzen tatsächlich eine Grundlage haben sollte. Dann wird dem Angeschwärzten für sein enthülltes Vergehen eine saftige Strafzahlung aufgebrummt, von welcher der Denunziant einen prozentualen Anteil erhält.

    

So funktioniert das hier. Wenn sich die ganze Sache – wie in unserem Fall – als falscher Alarm heraus stellt, geschieht dem Denunzianten nichts. Aus Sicht des Polizeistaats ist es stets vorzuziehen, den Behörden einen Verdachtsmoment zu melden. Ein Fehlalarm hat also keinerlei Auswirkungen auf denjenigen, der etwas gemeldet hat.“

Bei Leuten wie uns, die einen großen Teil ihres Lebens im Ausland und anderen Teilen Asiens verbracht haben, somit also durch die „Ureinwohnerschaft“ als Neuzugezogene betrachtet werden, gilt das umso mehr“, so Ray.

Würde ich mir morgen einen neuen Luxusschlitten vor die Tür stellen, so müsste ich durchaus damit rechnen, dass es bald wieder an meiner Tür klopft – weil aus unserer Nachbarschaft jemand auf die Idee gekommen sein mag, dass es sich in meinem Fall um einen Steuerhinterzieher handeln mag.

Wie man im Englischen so schön sagt: You can´t make that stuff up. Jetzt sind die Behörden zum Beispiel auch äußerst spitz auf Leute, die Hochhaus-Apartments besitzen, um diese mittels Airbnb oder anderen Internetkanälen zu vermieten. Ein neues Gesetz besagt, dass Hochhaus-Apartments nicht kurzfristig, sondern nur langfristig vermietet werden dürfen.“

Wer sich erwischen lässt, weil er diesem Gesetz zuwider gehandelt hat, wird mit einer Strafzahlung von 600.000 (!) Singapur-Dollar belegt. Umgerechnet sind das in etwa 387.000 Euro. Ob das ein Witz sei, möchte ich wissen. Nein, wie die Antwort lautet, die örtlichen Behörden machen keine Witze. „Die bankrottieren Dich einfach, wenn Du gesetzlichen Verordnungen keine Folge leistest“, so Ray.

Einige Leute haben das in letzter Zeit schmerzlich zu spüren bekommen. Du kannst es selbst in der Zeitung nachlesen, wenn Du es nicht glaubst. Wer in einer solch ernsthaften Sache seinen Nachbarn anschwärzt, kann sich im „Erfolgsfall“ einer stattlichen Belohnung durch die Behörden gewiss sein.

Doch denk nicht, dass hier irgendjemand sicher wäre vor Verfolgung. Morgen kann es jenen Typen für irgendetwas Strafbares erwischen, der heute noch als Profiteur der Denunziation vom Feld gegangen sei. In Singapur sei es im Hinblick auf die Fortentwicklung des Polizeistaats im Verlauf der letzten Jahre zu einer vollendeten Metamorphose gekommen, wie Ray lächelt.

Wer hier lebe, dem böte sich nur noch die Möglichkeit nach den hiesigen Regeln zu spielen. Wer aus dem Raster falle, werde es in Singapur alles andere als leicht haben. Ich entgegne, es höre sich ganz danach an, als ob die einheimische Bevölkerung bereitwillig bei diesem Spielchen der Denunziation mitmache.

Aber klar doch“, wie mir entgegnet wird. „Wenn Du hier wegen irgendetwas erwischt wirst, ist Dein Leumund im Eimer. Die Leute in Deiner Nachbarschaft beginnen damit, Dich zu meiden. Es macht niemand mehr Geschäfte mit Dir.“

Verlierst Du Deinen guten Leumund, kannst Du in Singapur einpacken – und zwar für immer. Wer sein Gesicht verloren habe, bekomme in dieser Gesellschaft kein Bein mehr auf den Boden. Warum die einheimische Bevölkerung so bereitwillig ihre bürgerlichen Freiheiten an den Nagel gehängt habe, möchte ich von meinem Gesprächspartner wissen.

Hauptsächlich basiere dies auf Panikmache. Die Nationale Sicherheit Singapurs werde über alles gestellt. So auch die öffentliche Sicherheit, so Ray. Und wer nach vollumfänglicher öffentlicher Sicherheit rufe, zeige sich eben auch dazu bereit, die Sicherstellung dieser Sicherheit an mit allen erdenklichen Instrumenten ausgestatte Behörden zu delegieren.

Eines möchte ich Dir sagen. Hier kannst Du als Frau um drei Uhr morgens halb nackt durch welchen Distrikt auch immer laufen. Dieser Frau wird nichts passieren. Die Strafen, die auf Belästigung oder Vergewaltigung stehen, sind derart drakonisch, dass kaum ein Mann in diesem Stadtstaat auch nur auf den Gedanken kommen würde.“

Ich leite unser Gespräch auf die politisch-wirtschaftliche Situation, in der sich der Stadtstaat befindet. „Oh“, wie Ray entgegnet, der Nationalen Sicherheit Singapurs wird ebenfalls erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt, da sich der Stadtstaat immerfort im Spannungsfeld zwischen malaysisch-chinesischen Ansprüchen befände.

Dieser Bericht wird in den nächsten Tagen in weiteren Teilen fortgesetzt. Alle in diesem Bericht erscheinenden Bilder © Roman Baudzus

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