Es war im vergangenen Jahr, als mich eine  E-Mail erreichte - von einer Frau, der ich im Sommer 1989 im Urlaub begegnet bin. Sie hatte ein Foto beigefügt, welches uns beide an einem Hotelpool unweit von Barcelona zeigt. Sie war 16, ich 18.

Das war im Sommer vor 28 Jahren, zu einer Zeit ohne Internet, Facebook, Smartphone, etc.
Sie schrieb gerade eine Postkarte an eine Brieffreundin in der DDR, in einem Land, das für uns junge Westdeutsche weiter entfernt war als Spanien. Es kümmerte sie nicht, ob die Leipziger Freundin neidisch werden könnte, da sie eine bunte Postkarte aus einem Urlaubsort erhielt, der für sie unerreichbar gewesen ist. Schließlich seien die Ostdeutschen an ihr beengtes Leben gewöhnt, war ihre Haltung.
Einige Monate später wurde die Berliner Mauer geöffnet. Europa war nicht mehr geteilt. Der Kommunismus verschwand gemeinsam mit dem Kalten Krieg. Und Francis Fukuyama hielt das "Ende der Geschichte" für gekommen, weil sich nunmehr die liberale westliche Ordnung weltweit durchsetzen werde, da jedwede Alternative gescheitert sei. Der amerikanische Politikwissenschaftler irrte, er irrte von Anfang an.

Zwar löste der Markt die Planwirtschaft ab, aber statt freiheitlicher Demokratie erstarkte Oligarchie. Das westliche Ideal konkurriert heue mit dem Moskauer Modell der "Gelenkten Demokratie" oder dem Pekinger eines zunehmend konfuzianisch geprägten Staatsverständnisses. Aber auch im alten Westen halten Lobbyisten den Parlamentarismus im Griff, werden Bürger von Suchmaschinen und Geheimdiensten auf eine Weise überwacht, welche die Schreckensvisionen George Orwells bald eingeholt haben dürfte. Entladen sich politische Spannungen, fegen sie alte Ordnungen hinweg, stürzen Regierungen und tauschen Eliten aus. Sie schaffen Neues oder auch nur Anderes, nicht immer Ideales. Vielleicht hilft Ökonom Joseph Schumpeter das Phänomen besser zu verstehen, wenn er von schöpferischer Zerstörung spricht. So gesehen erlebten Osteuropa beim Fall des Eisernen Vorhangs oder Nordafrika im arabischen Frühling einen Aufstand gegen erstarrte Strukturen. Der politische, der wirtschaftliche, der soziale Druck musste entweichen. Daraus folgte durchaus ein Aufbruch. Dass dieser oft nichts von dem bringt, was Menschen sich versprochen haben, haben die letzten 28 Jahre gelehrt.

Freiheit vor ihrer Rückabwicklung?

Heute schließen sich die ersten Grenzen wieder, die lange Zeit geöffnet waren. Der alte Westen erscheint diesbezüglich wie der neue Osten.

Nicht etwa liberales Denken, nicht etwa Demokratie oder soziale Marktwirtschaft führen die Geschichte an ihr gutes Ende. Es ist Dynamik, die sich immer wieder Bahn bricht, die Finanzmärkte kollabieren lässt und Bürgerkriege provoziert, aus Siegern Verlierer oder aus Verlierern Sieger macht. Sie erlaubt kein Ende der Geschichte. Wen sie nicht verzweifeln lässt, der richtet sich mit ihr ein.

Seit geraumer Zeit leben wir in interessanten Zeiten.

„Ich wünsche dir, in einer interessanten Zeit zu leben”, lautet ein chinesischer Fluch. Ja, zweifelsohne, wir leben in interessanten Zeiten.

Dieser Tage wird die Welt politisch neu gestaltet, dann wird diese etwas anders aussehen.

„Was in den kommenden zwei Tagen geschehen wird, dürfte Folgen haben. Für die globalen Märkte – und damit auch für unser Geld. Für die deutsche Politik, die womöglich vor einer nie da gewesenen Herausforderung steht. Europa könnte sein Gesicht verändern und eine Weltmacht könnte pleitegehen.“ War in der Tageszeitung die Welt dazu zu lesen.

Der Brexit beginnt und in den Niederlanden wird gewählt, Auftakt für eine Reihe von europäischen Urnengängen in diesem Jahr, welche die Zukunft und auch das Schicksal der EU tangieren.
Die Dinge entwickeln sich mit beschleunigter Hast. Wir alle erleben jetzt die dramatischen Verschiebungen des globalen Machtgefüges, deren Zeugen wir sind, deren Folgen und Auswirkungen aber die wenigsten noch erfassen können.

Unsere Zeit macht uns zu Chronisten einer Welt im Aufbruch, aber auch einer Welt in Auflösung.
Diese Entwicklung enthält Chancen und Risiken. Niemand war auf diese radikale Veränderung gefasst, keiner weiß Rat.

Vielleicht ist die aktuelle Situation mit den Worten des britischen Historikers Niall Ferguson annähernd erfasst: „Was aber, wenn die Geschichte nicht zyklisch, sondern arhythmisch wäre - zuweilen beinahe unbeweglich, aber auch in der Lage, plötzlich, wie ein Sportwagen, zu beschleunigen? Was, wenn der Kollaps nicht Jahrhunderte bräuchte, sondern plötzlich käme, wie ein Dieb in der Nacht?“

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