Durch die geplante Reform der IHR soll die WHO eine Reihe zusätzlicher Kompetenzen bekommen. Dasselbe gilt für den geplanten Pandemievertrag. Die IHR gelten als völkerrechtliches Vertragswerk und sind bindend für alle teilnehmenden Regierungen. Beim Pandemievertrag ist das zumindest formal nicht der Fall.

In §55 der IHR ist geregelt, wie eine Reform des Regelwerks vonstatten zu gehen hat. Dort heißt es ohne viel Raum für Zweideutigkeit (meine Übersetzung):

„(1.) Änderungen dieser Vorschriften können von jedem Vertragsstaat oder vom Generaldirektor vorgeschlagen werden. Diese Änderungsvorschläge sind der Gesundheitsversammlung zur Prüfung vorzulegen. (2.) Der Generaldirektor übermittelt allen Vertragsstaaten den Wortlaut jeder vorgeschlagenen Änderung mindestens vier Monate vor der Gesundheitsversammlung, in der sie zur Beratung vorgeschlagen wird.“

Soweit ich bei der WHO und beim RKI sehen kann, gibt es keine halbwegs offizielle deutsche Übersetzung der IHR, was vielsagend hinsichtlich des Eifers der Verantwortlichen in Deutschland ist, in der Diskussion um  die internationalen Gesundheitspolitik Transparenz herzustellen.

Bis 27. Januar hätte der vorgeschlagene Änderungstext an die Regierungen übermittelt werden müssen, damit regelkonform auf der nächsten Weltgesundheitsversammlung darüber abgestimmt werden könnte, die am 24. Mai beginnt. Das ist nicht geschehen. Es gibt bis heute noch keinen Text.

Gesetzesbruch mit Ansage und Feigenblatt

Die Arbeitsgruppe, in der die eingereichten Änderungsvorschläge der Staaten (und Staatenbünde) verhandelt werden, hat schon im Oktober verlautbart, dass man bis Januar wahrscheinlich nicht fertig werden würde. Zu groß sind die Differenzen. Aus einem Grund, der nicht offengelegt wird, ist es der WHO aber sehr wichtig, dass die IHR-Reform und der Pandemievertrag in diesem Jahr schon verabschiedet werden.

Und so bat der saudi-arabische Arbeitsgruppenvorsitzende auf dem fünften Treffen der „Working Group on Amendments to the International Health Regulations“ (WGIHR) einen Juristen des WHO-Sekretariats, eine Expertise dazu vorzutragen, ob man vielleicht doch bis Mai weiter verhandeln und dann gleich abstimmen könnte. Wie bestellt, bestätigte der WHO-Experte dies, allerdings in der verdächtig zurückhaltenden Formulierung, man könne das als Möglichkeit in Betracht ziehen.

Seine Ausflucht, warum man sich angeblich nicht an die klaren Regeln der IHR für die Verabschiedung von Änderungen halten muss, ist bemerkenswert schwachbrüstig. Er sagte, bisher seien Änderungen nur von Staaten oder vom WHO-Sekretariat vorgeschlagen worden, nicht von einer von der Weltgesundheitsversammlung eingesetzen Arbeitsgruppe. Deshalb gebe es keinen Präzedenzfall. Dass die Weltgesundheitsversammlung beim Auftrag für die Arbeitsgruppe ausdrücklich auf §55 IHR verweist, soll dabei offenbar keine Rolle spielen.

Es genüge, so der Jurist, wenn das WHO-Sekretariat im Januar eine – schon lange bekannte – Liste aller von den Regierungen eingebrachten Änderungsvorschläge, die teilweise miteinander konkurrieren, verbreite. Dabei ist mehr als offenkundig, dass eine solche – alte – Liste von Vorschlägen, die nicht danach unterscheidet, ob ein Vorschlag zur Abstimmung gestellt werden soll oder ob er noch geändert wird, etwas ganz anderes ist, als der Text der vorgeschlagenen Änderungen, über den abgestimmt werden soll. Im Mai wird nicht über eine lange Liste aller Vorschläge einzeln abgestimmt, sondern über einen – mutmaßlich kohärenten – einzelnen Änderungsvorschlag, oder wenige Varianten davon.

Es ist erkennbar, dass diese Rechtsexpertise die Funktion hat, den Verantwortlichen zu erlauben, das Recht zu brechen und sich hinterher damit herausreden zu können, man habe glauben dürfen, das Vorgehen sei in Ordnung.

Ein Schuss vor den Bug

Die frühere Rechtsberaterin der WHO und Gründerin der Organisation Global Health Responsibility, Silvia Behrendt, veröffentlichte nun allerdings einen offenen Brief an den Generaldirektor der WHO, mit dem sie den Verantwortlichen diese Ausflucht nehmen oder zumindest schwerer machen will. Sie macht den Generaldirektor ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die vorgetragene Rechtsmeinung seines Sekretariats grob falsch sei, und dass die WHO offenkundig plane, internationales Recht zu brechen, und dass die Organisation und ihre handelnden Personen dafür zur Verantwortung gezogen werden können.

Die Öffentlichkeit wird ausmanövriert

Die Einhaltung der Vorschriften ist wichtig, damit vor einer eventuellen Verabschiedung der IHR-Reform durch Stimmenmehrheit der WHO-Mitgliedsregierungen eine vernünftige öffentliche und parlamentarische Debatte darüber stattfinden kann. Denn eine Ratifizierung der IHR-Reform ist nicht nötig. Sie tritt nach einem Mehrheitsbeschluss der Weltgesundheitsversammlung automatisch für alle Mitgliedsländer bindend in Kraft.

Nur wenn eine Regierung ihre Ablehnung innerhalb einer Frist kundtut, werden sie für dieses Land nicht bindend. Die Frist wurde jüngst, im Hinblick auf die anstehende Reform, von 24 auf 12 Monate verkürzt. Das bedeutet konkret: Wenn die Ampelkoalition der Reform zustimmt, oder zumindest keine Ablehnung bekannt gibt, ist es für eine eventuell 2025 neu gewählte Regierung schon zu spät, um noch Ablehnung oder Vorbehalte anmelden zu können.

Eine informierte öffentliche Diskussion vor der Abstimmung ist daher wichtig. Diese ist unmöglich, wenn es keine Information darüber gibt, was eigentlich geplant ist, und alle, die öffentlich Kritik üben, von einer ganz großen Koalition der lichtscheuen Heimlichtuer der Desinformation beschuldigt werden.

Fazit

Die Absicht, ohne informierte öffentliche und parlamentarische Diskussion potenziell sehr weitrechende Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften zu verabschieden ist zutiefst undemokratisch. Allerdings ist das Projekt offenbar dem Scheitern nahe, weil sich die Industrieländer, die vor allem die Interessen ihrer Pharmakonzerne vertreten, und die Länder des globalen Südens nicht einigen können. Um so wichtiger ist es, dass die Kritik nicht nachlässt. Denn eine Garantie, dass dieses Demokratieaushöhlungsprojekt von selbst scheitert, gibt es nicht.

Hinweis: Ich wurde durch einen Bericht von Andrea Drescher auf tkp.at auf diesen offenen Brief aufmerksam.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog von Norbert Häring. Vielen Dank für die Erlaubnis ihn übernehmen zu dürfen!

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