Die Wahrheitsfähigkeit des Menschen ist ein Fundament unserer Kultur, Wissenschaft, Justiz, Bildung – ja eigentlich beinahe aller Lebensbereiche. Die grundsätzliche Möglichkeit, Wahres zu erkennen und auszudrücken wird üblicherweise nicht in Abrede gestellt, unterscheiden doch alle Menschen tagtäglich und ganz selbstverständlich zwischen wahren und unwahren Aussagen.

Die Frage, ob den Augen auch zu trauen ist, wurde bereits im Medienradar mit Fokus auf Immanuel Kants Erkenntnistheorie thematisiert. Im vergangenen Jahr wurde diese Frage aus psychologischer und physikalischer Sicht auch in einer englischsprachigen Unterhaltung zwischen dem amerikanischen Programmierer und Podcaster Lex Fridman und dem Kognitionspsychologen Donald Hoffman erörtert. Hoffman trug dort seine wissenschaftlich fundierten Argumente gegen einen menschlichen Zugang zur Realität vor. Ein Schlüsselsatz aus dem Interview:

Wenn man die Evolution durch natürliche Auslese ernst nimmt, dann ist das [dass es etwas in einer objektiven Raumzeit gibt, das dem entspricht, was wir sehen] ausgeschlossen. Unsere Wahrnehmungen sind dazu da, adaptives Verhalten zu steuern. Das ist alles. Sie sind nicht dazu da, uns die Wahrheit zu zeigen. So wie ich es sehe, sind sie sogar dazu da, die Wahrheit zu verbergen – weil die Wahrheit zu kompliziert ist.“

In seinem Essay „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ hinterfragt Nietzsche die Natur der menschlichen Erkenntnis und der Sprache und kommt vor rund 150 Jahren bereits zu vergleichbaren Schlussfolgerungen. Mit unterschiedlichen Begründungen verbindet beide die Skepsis gegenüber der Annahme, dass unsere Wahrnehmungen oder Sprachen uns Zugang zu einer unverfälschten Realität verschaffen. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Rolle der Philosophie als Vordenkerdisziplin empirischer Wissenschaften.

Nietzsche argumentiert, dass unsere vermeintlichen "Wahrheiten" lediglich Illusionen der Wahrnehmung und, sprachlich gesehen, metaphorische Konstruktionen sind. Eine objektive Realität spiegelten sie nicht wieder:

Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschließen auf eine Ursache außer uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde.“

Für Nietzsche bedeutet dies, dass ein Mensch, der sich der fundamentalen Unfähigkeit zur Erkenntnis einer objektiven Wahrheit bewusst wird, den Wert eines Lebens in Intuition und Kunst erkennen sollte. Diese ermöglichen es, die engen Grenzen der Sprache zu durchbrechen und eine tiefere, wenngleich unverhohlen subjektive, doch damit aufrichtigere Brücke zur Welt zu schlagen.

Sicherlich sollten wir auch vor diesem Hintergrund den – insbesondere juristischen – Anspruch, nach größtmöglicher Wahrheit zu streben, keineswegs aufgeben. Aber die Frage, was genau Wahrheit zu bedeuten hat, muss nach der Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen anders beantwortet werden.

 

In diesem Sinne empfehlen wir die Lektüre des folgenden Essays, der einen anregenden Einstieg in die Auseinandersetzung mit kognitionspsychologischen und sprachtheoretischen Überlegungen bietet:

Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, FU Berlin: https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/interart/media/dokumente/laboratory-reader/Wilson_Text_Nietzsche_dt.pdf

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