Unsere Sinne sind zweifellos zuverlässig insofern, als sie uns eine Welt darbieten, in der wir uns mit ihrer Hilfe offenbar verlässlich zurechtfinden können; vorausgesetzt, wir schenken ihren Eindrücken die nötige Aufmerksamkeit. Die praktisch kaum verwertbare, aber ungleich faszinierendere Frage nach der Verlässlichkeit unserer Sinneswahrnehmungen in Bezug auf das, was „die Welt“ wirklich ist, beschäftigt Philosophen seit Jahrtausenden.
Zweifel an der Zuverlässigkeit unserer Sinne nähren sich nicht nur aus gelegentlich wahrgenommenen Trugbildern – seien es optische Täuschungen aller Art oder ausgeprägte Halluzinationen. In beiden Fällen gibt es einfache Korrektive, z.B. einen Perspektivwechsel, durch den die Täuschung verschwindet, oder den Vergleich mit der Mehrheitswahrnehmung, der eine Halluzination als solche entlarvt.
Farbenblindheit einerseits oder Synästhesien andererseits geben ebenfalls nur erste Hinweise darauf, dass die Wahrnehmung der Welt sowohl unterdurchschnittlich als auch überdurchschnittlich reich sein kann. Wir streifen hier aber bereits den Bereich der so genannten Qualia: der subjektiven Erlebnisinhalte, welche die Dinge erst in uns auslösen und die somit auch definitionsgemäß nicht von den Dingen selbst ausgehen. Die konkrete Farbinterpretation der elektromagnetischen Wellen, die auf unsere Retina treffen, ist ein klassisches Beispiel subjektiver Interpretationen objektiver Phänomene (Lichtwellen).
Unsere technischen Errungenschaften ermöglichen es uns auch, mit künstlichen Sinnen weit über das hinauszublicken, was uns unsere natürlichen Sinne von der Welt verraten, und über das sichtbare Licht hinaus nach Erkenntnissen über die Dinge zu streben. Grundlegende Unterschiede sind dabei noch nicht zu erwarten, wohl aber eine Ergänzung des Bekannten – und so ist unsere Wahrnehmung der Welt zumindest nachweislich unvollständig.
Aber entspricht unsere Wahrnehmung der Welt dem, was Kant die noumenale Welt nannte: die Welt der Dinge selbst? Oder leiden wir an einem wesentlichen Wahrnehmungsdefizit, das uns selbst die erweiterten Sinneseindrücke, die wir mit technischen Hilfsmitteln gewinnen, so zurechtbiegen lässt, dass sie uns fast mehr über unser Wahrnehmungsvermögen verraten als über sich selbst? Kant hat diese Frage bejaht und ausführlich begründet und damit die sogenannte „kopernikanische Wende“ in der Philosophie eingeläutet:
„Die Vernunft kann nur das an der Natur erkennen, was sie vorher in sie hineindenkt!“
Dazu zählte Kant, der dies selbstverständlich um ein vielfaches nuancierter bespricht, als es hier möglich ist, schließlich sogar die Wahrnehmung von Zeit, Raum und Kausalität – alles nur menschliches Beiwerk zur Ermöglichung der sinnhaften Erschließung der für uns überkomplexen, wirklichen Welt? An kritischen Abhandlungen zu dieser Sichtweise und der ihr zugrundeliegenden Argumentation mangelt es jedenfalls auch nicht.
Sollten wir die Welt aber tatsächlich nicht annähernd so wahrnehmen, wie sie wirklich ist, sondern nur so, wie es unsere kümmerlichen Sinne zulassen, eröffnet dies natürlich auch ganz neue Zugänge zum Selbstverständnis, gar zur Ästhetik des eigenen Wesens. Die Wahrnehmung von Schönheit und die Ergriffenheit angesichts beeindruckender Sinneswahrnehmungen würden dadurch nicht an Reiz verlieren, sondern eine ganz neue Tiefe gewinnen:
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!
Johann Wolfgang von Goethe (aus dem Türmerlied)
In diesem Sinne empfehlen wir die Lektüre eines faszinierenden englischen Artikels von Raymond Tallis, der sich mehr Zeit nimmt, ins Detail zu gehen. Er beschreibt dort, warum er Wahrnehmung und Realität getrennt denkt:
https://philosophynow.org/issues/142/Perception_and_Reality
Einen englischen Übersichtsartikel der Stanford Encyclopedia of Philosophy zur Transzendentalphilosophie und auch der diskutierten Gegenargumente finden Sie hier:
https://plato.stanford.edu/entries/transcendental-arguments/
Eine hervorragende Übersetzung können Sie sich selbst mittels Deepl erstellen: https://www.deepl.com
Beim Aufruf dieses Links erscheint der englische Hauptartikel im Browser in der Google-Übersetzung, die ebenfalls brauchbar ist:
https://philosophynow-org.translate.goog/issues/142/Perception_and_Reality?_x_tr_sl=auto&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=wapp
Kommentare
Dem kann ich leider gar nicht zustimmen!
Die grosse Masse der derzeit lebenden Menschen stellt die täglichen Eindrücke, die sie mit dem Augenlicht erfassen, m.M.n. eben NICHT infrage. Das moderne Leben hat uns in eine Oberflächlichkeit gezwängt, in der die Menschen sich sehr wohl bereits als Individuum identifizieren, allerdings begrenzt auf das ausschliessliche Ich-Bewusstsein. Mit dieser eingeschränkten Sichtweise des eigenen Individuums beginnt schon die "Fehlsichtigkeit" der Menschen. Wer sich aber nicht selbst in seiner Oberflächlichkeit infrage stellen will (oder besser: kann), sondern am ich-bezogenen Weltbild festhält, kann schon gar nicht auch nur ansatzweise einmal anfangen, die ihn umgebende Welt und seine tiefere Wesenheit infrage zu stellen, geschweige denn auch noch eine höhere bzw analytische Sichtweise erarbeiten.
Das Auge wird dem Menschen immer nur eine beschränkte Aussicht vermitteln können, das liegt an unserer menschlichen Begrenzung in die Einbidung der Materie während unseres irdischen Lebenslaufes. Die "Sicht" darüber hinaus setzt geistig-spirituelle Arbeit und Erkenntnis voraus, und dafür sind weder KI noch leistungsfähige Elektronenmikroskope erforderlich. Das haben die Philosophen des antiken Griechenland, die über dergleichen technische Hilfsmittel nicht verfügt haben, bestens bewiesen.
Die Ergebnisse der modernen Forschung, der neuesten Technologien und der überwältigenden Fortschritte in der astrophysikalischen der allgemein-technischen, der medizinischen, der computer- und quanten-technologischen (u.V.m.) Forschung und der zunehmenden Kenntnis der uns umgebenden sub-atomaren Welt können allerdings in der Tat den Menschen zum Nachdenken und zum Suchen über sein eigenes Ich und seinen Platz in der trügerischen Erscheinungswelt anregen und beflügeln.
Grüsse und ein sschönes Wochenende an alle,
Ralph Oppel